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Buchkritik mit Hörprobe: »Blindband« von Gilbert Adair – Grandioses Spiel und ärgerliche Fehler

Blindband von Gilbert AdairDer Anfang des Romans »Blindband« des in Schottland geborenen Schriftstellers Gilbert Adair macht neugierig: 15 Seiten, die ausschließlich aus dem Dialog zweier Männer bestehen.

Mehr als diese 15 Seiten und den Auftrag, sie zu vertonen, hatte das literaturcafe.de zunächst nicht. Bereits seit einiger Zeit produzieren wir akustische Leseproben für den C. H. Beck Verlag in München. Und »Blindband« ist eine der Neuerscheinungen des ersten Halbjahres 2008.

Neu ist der Roman jedoch nicht. 1999 war er in deutscher Übersetzung im kleinen Schweizer Verlag Edition Epoca erschienen. Dem Beck Verlag kommt das Verdienst zu, dass er die zwischenzeitlich vergriffenen Romane Adairs wieder verfügbar macht.

Und der Roman hält, was der Anfang verspricht. In der Tat ist das ganze Buch ausschließlich in Dialogform geschrieben. Ein Experiment, das wunderbar gelingt und den Nervenkitzel beim Leser ungewöhnlich steigert. Denn eine der Hauptfiguren, der ältere Schriftsteller Sir Paul, ist blind. Bei einem Autounfall auf Jamaika verlor er beide Augen, und sein Gesicht wurde furchtbar entstellt. Seitdem lebt der vormals sehr erfolgreiche Autor zurückgezogen und fast ohne Kontakt zur Außenwelt auf seinem Landsitz.

Doch vier Jahre nach seinem Unfall will er noch einmal einen Roman schreiben. Eine Art Autobiografie und Auseinandersetzung mit seiner Blindheit. Per Zeitungsanzeige sucht er daher einen Assistenten, der für ihn schreibt und dessen Augen sich Sir Paul »leihen« möchte. Es meldet sich ein junger Mann, John Ryder, der mit Aktiengeschäften so viel Geld verdient hat, dass er sich auf das ungewöhnliche Abenteuer einlässt. Freilich keine einfache Sache, denn Sir Paul ist im Umgang mit anderen Menschen wahrlich nicht zimperlich.

Ist das Lesen von Büchern normalerweise »Kino im Kopf«, so schafft es Adair, dass man in seinem Buch quasi mit der Hauptfigur erblindet. Man lauscht beim Lesen förmlich den Dialogen, aus denen man alle Informationen gewinnen muss. Adair schafft es durch das geschickte Streuen dieser Infos, dass später allein der Text eines Jazzsongs reicht und der Leser sofort weiß, in welcher Situation sich die Hauptfigur befindet.

Noch nie lag allein in Leerzeilen mehr Spannung als in »Blindband«. Und immer stärker kommt ein mulmiges Gefühl auf, denn sowohl der Leser als auch Sir Paul merken, dass John Ryder nicht immer die Wahrheit über die Welt der Sehenden erzählt. Aber warum?

Mehr Handlung soll nicht verraten werden, wobei es dieser Umstand nicht einfach macht, auf die negativen Aspekte des Romans zu sprechen zu kommen, ohne etwas über das Ende zu verraten. Der Roman kommt »very british« daher. Doch wird am Schluss eine solch brutale und widerwärtige Szene beschrieben, gegen die die Passagen in Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete« geradezu harmlos sind. Es ist zwar nur eine Seite von fast 250, doch ist sie so drastisch, dass man später zögert, den Roman Freunden und Bekannten weiterzuempfehlen. Diesen Abschnitt hätte es nicht nötig gehabt. Wie ein guter Gruselfilm von Andeutungen lebt, also von den Dingen, die gerade nicht gezeigt werden, so hätte es auch dem Blindband gut getan, wenn es bei Andeutungen geblieben wäre.

Die andere Sache kann nicht Adair angekreidet werden, denn es ist die deutsche Übersetzung, die gelegentlich in Klang und Wortwahl eigenwillig wirkt. Geradezu ärgerlich ist es, dass der Übersetzer die Angst vor engen Räumen mit dem umgangssprachlichen und falschen Ausdruck »Platzangst« bezeichnet. Platzangst ist jedoch die Angst vor der Weite und vor großen Plätzen. Schade, dass man beim Beck Verlag solche groben Schnitzer in der Neuauflage nicht ausgebügelt hat. Hinzu kommt eine satztechnische Besonderheit, die man beim Lesen zunächst genauso wie die eigenwillige deutsche Wortwahl dem Verlag beziehungsweise einem mangelhaften Lektorat zuschreibt. Man hat beim Lesen den Eindruck, man würde ein schlecht redigiertes Buch in der Hand halten.

Doch gerade die satztechnische Besonderheit – die der Spannung wegen nicht näher erläutert werden soll – ist bewusst eingesetzt und gehört zu Adairs grandiosem Spiel mit dem Leser, das dafür sorgt, dass man das Buch nach der Lektüre sofort nochmals durchblättern wird.

Echte und »unechte« Fehler ergeben eine nicht sehr vorteilhafte Mischung, doch es sind letztlich das Spiel mit dem Leser und die hervorragend eingesetzte Dialogform, die den Roman trotz der Kritikpunkte lesenswert und spannend machen. Ein Lesetipp für Krimifans, die zumindest eine Seite lang eine härtere Gangart vertragen können.

Als besonderes Bonbon gibt es hier die eingangs erwähnten ersten 15 Seiten des Romans in einer vertonten Fassung zu hören, produziert für den C. H. Beck Verlag.

Viel Spaß beim Anhören!

Wolfgang Tischer

Gilbert Adair; Thomas Schlachter (Übersetzung): Blindband. Gebundene Ausgabe. 2008. C.H.Beck. ISBN/EAN: 9783406572258. 18,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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5 Kommentare

  1. Also, ich kenne „Platzangst“ auch nur als der Angst vor engen Räumen. Als Angst vor weiten, grossen Plätzen, wie es das Literaturcafe behauptet, ist mir „Platzangst“ nciht bekannt. Aber ich mag mich irren…

  2. Claustrophie=Angst vor der Enge, dem Eingeschlossensein, in einem Wort Raumangst (was im Roman dann mit „Platzangst“ heißt)

    Agoraphobie=wörtlich übersetzt „(Markt)Platzangst“, soweit ich weiß, bezeichnet das aber eher die Angst vor großen Menschenansammlungen

  3. Das seltsame Deutsch, das Herr Tischer konstatiert, rührt wahrscheinlich daher, dass das Buch anscheinend von einem Schweizer übersetzt wurde. Daher „tönt“ Manches etwas ungewohnt, aber das passt schon…. Ich fand die Szene, die Herrn Tischer gestört hat, auch unnötig drastisch und explizit, sie vermag jedoch meines Erachtens den positiven Gesamteindruck des Buchs nicht zu trüben.

    Eine kleine Korrektur: Der Unfall des Erblindeten ist in Sri Lanka passiert, nicht in Jamaika.

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