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Bachmanntagebuch 2019: Ein wenig Mitleid, aber noch mehr Respekt

Bachmanntagebuch 2019: Der erste Lesetag im ORF-Studio 1

Ich sitze im ORF-Studio, wo ab 10 Uhr die erste Autorenlesung beginnt und auf 3Sat live im Fernsehen übertragen wird. Ich bin gespannt, was mich erwartet. Fünf der vierzehn Autoren werden an diesem ersten Lesetag ihre Texte vorlesen, je 25 Minuten Lesezeit. Direkt im Anschluss wird die Jury den jeweiligen Text diskutieren.

Um 9.45 Uhr sitzt die erste Autorin bereit auf dem exponierten Leseplatz in ihrem Sessel, mitten im Raum und von allen Seiten von Zuhörern umringt. Unter diesen befindet sich auch eine Schulklasse. Wenn ich sie so ansehe, habe ich ein wenig Mitleid mit der Autorin, aber noch mehr Respekt. Es gehört Mut dazu, seinen eigenen Text live vor einer Jury und Publikum vorzulesen, und dann wird das Ganze auch noch live im Fernsehen übertragen.

Bachmanntagebuch 2019: Der erste Lesetag im ORF-Studio und Strandbad 1
Im Studio vor der Lesung

Kurz nach 10 Uhr wird die erste Lesende nach einer kurzen Anmoderation erlöst und darf beginnen. Die Texte werden dem Publikum jeweils kurz vorher als DIN-A4-Ausdruck ausgehändigt. Was für ein Service. Ich konzentriere mich. Der erste Eindruck ist, dass mich der Text verwirrt, ich kann mit allem nicht so viel anfangen. Eine Mischung aus Science Fiction und Horror. Was will die Autorin sagen?, frage ich mich. Warum ist der Text so vollgestopft mit so vielen verschiedenen Namen, Fremdwörtern, Assoziationen, dass man kaum mitkommt? Will man einer Schulklasse so ernsthaft Gegenwartsliteratur näherbringen? Nach der Lesung bin ich aufgrund meiner Verwirrung sehr gespannt, was die Jury zu sagen hat. Wow! Die Diskussion der Jury ist äußerst aufschlussreich für mich und verändert meine Wahrnehmung des Textes. Die Handlung wird mir nun klarer, und ich werde auf viele Aspekte hingewiesen, die mir nicht aufgefallen sind. Die Jury gibt wertvolle Tipps zur Lektüre: Man sollte den Text ruhig 2- bis 3-Mal lesen, um die Vielschichtigkeit zu erkennen und ihn zu verstehen. Das Jurymitglied, das die Autorin vorgeschlagen hat rät, den Text intuitiv zu lesen und sich auf das Atmosphärische im Text einzulassen. Ob der Text nun präzise sei oder nicht, darüber wird ebenfalls diskutiert. Laut eines Jurymitglieds wird »äußerst präzise Verwirrung gestiftet«. Präzision in der Sprache ist ein weites Feld, über das man lange schwammig diskutieren kann. Eindeutig präzise ist nur die Sprache der Mathematik, weshalb ich diese sehr schätze. Jedenfalls: Danke, liebe Jury! Eure Diskussion hat mich motiviert, den Text nochmals zu lesen. Nachmittags im Strandbad. Bei der zweiten Lektüre kann ich mehr mitnehmen, und auch die Atmosphäre wirkt weniger befremdlich auf mich und übt einen gewissen Reiz aus. Ich finde den Text irgendwie gut.

Im nächsten Text einer jungen und sympathisch wirkenden Autorin aus Österreich sind Gespenster, die Raumfahrt und ein Loch im Raumschiff Thema (auf eine wahre Begebenheit anspielend). Auch aus diesem Text werde ich nicht so richtig schlau, ich weiß nicht genau, was ich von ihm halten soll und erlaube mir ohne zweite Lektüre kein Urteil.

Die Lesung der dritten Autorin ist ganz anders. Ich komme mit. Die Anzahl der Personen ist klar und überschaubar. Kriegsgeschehen und die Folgen aus Kinderperspektive. Alles nicht unbedingt etwas Neues, aber die Geschichte packt mich. Mir gefällt die unterschiedliche Erzählperspektive, die wiederkehrenden Motive innerhalb der Erzählung. Eine schlüssige und abgeschlossene Sache. Die Jury aber zerreißt den Text so richtig. Hm … ich fühle mich nicht ganz richtig am Platz. Müssen Texte mit literarischem Anspruch zwangsweise so vollgepackt mit Stoff, Action, Anspielungen, Sprüngen, parallelen Handlungssträngen und Charakteren sein, dass man als Leser erst einmal verwirrt ist? Mein Kritikpunkt ist allgemeiner Natur. Genau die gleiche Frage habe ich mir in letzter Zeit auch bei vielen Filmen gestellt. Aber auch in Supermärkten. Weniger wäre für meinen Geschmack oft mehr.

Bachmanntagebuch 2019: Der erste Lesetag im ORF-Studio
Zweitlektüre im Standbad

Es folgt eine halbstündige Mittagspause nach drei Stunden Programm ohne Unterbrechung. Die tut gut. Nach der Pause verfolge ich das Geschehen weiter. Es steht wieder eine ganz andere Art von Text an. Eine Kärntnerin liest aus ihrem in der Region spielenden, historischen Roman, die Protagonisten sind wie zuvor wieder Kinder. Ich bin ganz Ohr, der Ton der Geschichte und die erzeugte Stimmung gefallen mir, auch der unterschwellige Sarkasmus. Die Anwesenden im Pressebereich und die Jury sind erneut sehr gespalten. Dem Text wird mehrfach eine gewisse Vorhersehbarkeit angekreidet – dem kann ich zustimmen, auch wenn es mich beim Zuhören nicht einmal gestört hat. Ich fand’s gut.

Der fünfte und letzte Text ist der einzige, zu dem ich am Ende des Tages wirklich eine klare Meinung habe. Die Thematik und Rahmenhandlung (Mutter erlebt und erzählt das Scheitern der Ehe ihres Sohnes) sind aktuell (und auch vergleichsweise verständlich und bodenständig). Aber irgendwie finde ich, dass man hätte mehr daraus machen können. Die Protagonisten und die Handlung sind mir zu klischeebehaftet. Ich hätte mir vielschichtigere Charaktere gewünscht. Da scheine ich mir ausnahmsweise mit der Fachwelt einig zu sein.

Bachmanntagebuch 2019: Im ORF-Studio und Strandbad
Am Ende wieder im See

Nach den ersten fünf Lesungen besteht meinerseits großer Diskussionsbedarf. Dazu ist Gelegenheit: Abends findet der Empfang der Bürgermeisterin im Garten des Schloss Loretto statt, selbstverständlich in bemerkenswerter Kulisse am See gelegen – eine Location, die prädestiniert für Hochzeiten ist, denke ich mir. Ein lauer Sommerabend, kalte Getränke, gutes Essen vom Buffet, Musik, schick angezogene Leute (und leider auch Mücken gehören dazu). Es ist ein schöner Abend in besonderem Ambiente, nichts Übertriebenes, aber dennoch besonders. Und Gelegenheit, um über den Tag und das Vorlesen zu sprechen, besteht auch reichlich.

Juliane Hartmann

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