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Bachmanntagebuch 2019: Im Auge des Bachmann-Universums

Drinnen wird gelesen: Eingangsbereich des ORF-Theaters
Drinnen wird gelesen: Eingangsbereich des ORF-Theaters

Voll und ganz eingetaucht bin ich ins Bachmann-Universum. Ich verfolge das Geschehen 2019 zum ersten Mal und das direkt vor Ort, bin keiner der vielen »alten Hasen«, die jedes Jahr traditionell in Klagenfurt sind. Mein Plan war, mich voll und ganz auf die Welt der Literatur einzulassen.

Mittlerweile bin ich vertraut mit der Infrastruktur in Klagenfurt, sprich: wie ich mich optimal mit dem Rad zwischen Hotel, Studio und See bewege. Zudem bin ich informiert, an welchen Stellen man die Lesungen verfolgen kann. Heute morgen war ich wieder im ORF-Studio, vormittags allerdings nicht im Studio der Live-Übertragung, sondern im Presseraum. Dort wird das Geschehen per Fernsehbildschirm übertragen, und es sitzen circa 15 Medienvertreter an kleinen Tischen, die meisten haben ein elektronisches Gerät vor sich, in das sie rege hineintippen.

Im Presseraum
Im Presseraum

10 Uhr morgens, ich bin bereit. Der erste männliche Autor ist heute Morgen an der Reihe. Der Text spielt in der heutigen Zeit. Der Autor taucht mit seinem Namen selbst im Text auf. Er beschreibt die Trennung von seiner Freundin, die ihn verlassen hat. Ich steige auf Anhieb in die Geschichte ein. Sie ist greifbar und modern.

Als der Autor eine Situation beschreibt, in der der Protagonist darauf angesprochen wird, dass er mit seinem leicht asiatischen Aussehen doch kein Deutscher sein könne und woher er denn wirklich komme, finde ich ihn noch sympathischer. Nicht wegen meines Aussehens (leider viel zu blass und deutsch), sondern weil ich in der Vergangenheit bereits mehrmals über eine vergleichbare Situation peinlich berührt über meine Landsleute war.

Für viele Deutsche ist es leider unverständlich, dass jemand, der ein wenig anders aussieht, auch Deutscher sein kann und nicht zwangsweise ein Ausländer ist – das ist hier kein typisches Einwanderungsland im historischen Sinne wie die USA. Würde ich einen Roman schreiben, würde ich genau diese Situation thematisieren. Ich fand den Text gut (lediglich den Schlusssatz hätte es nicht gebraucht) – also gehe ich davon aus, dass die Expertenjury ihn gleich niedermachen wird.

Erst einmal eine erhellende Aussage eines Jurymitglieds, das festhält, dass das Schöne an der Tätigkeit eines Literaturkritikers und dieser Jury sei, dass man nicht immer sofort eine Meinung haben müsse, manche Texte wären auch in Schichten zu verstehen. Wie schön. Die Jury hat mich in der Tat bei mehreren Werken bereits auf offensichtliche und tiefere Schichten aufmerksam gemacht. Der aktuelle Text kommt bei der Jury nicht besonders an – aber ich erhalte die Erklärung, warum ich mich mit ihm identifizieren kann: ich gehöre wie der Autor und ein Jury-Mitglied der »Generation Y« an.

Nächste Lesung. Eine ganz, ganz andere Welt und Thematik. Eine junge deutsch-irakische Autorin berichtet über den Genozid an den Jesiden im Jahre 2014 durch den IS. Auch Teile ihrer Familie waren unter den Opfern, und sie recherchiert im Irak. Einfach nur grausam und unmenschlich. Ich bin sehr betroffen. Der Text liest sich allerdings primär wie eine Reportage. Um mich über das Ereignis zu informieren, finde ich ihn sehr gelungen – er geht mir wie gesagt nahe. Somit erfüllt der Text einen wichtigen Zweck, allerdings verstehe ich schlichtweg nicht, was das mit einem Literaturpreis zu tun haben soll, ich finde ihn für diese Veranstaltung nicht passend. Es gelingt mir nicht, ihn als literarisches Werk zu sehen. Manche Jurymitglieder wollen gar nichts sagen aufgrund der heftigen Thematik. Das kann doch auch nicht Sinn der Sache sein.

Dritte Lesung und die letzte vor der Pause. Ich bin leider schon etwas unkonzentriert, und mir gelingt der Einstieg nicht so recht. Lobende Worte aus der Jury. Also definitiv die Strandbad-Lektüre für heute Nachmittag, denke ich mir. Dort lese ich nochmals konzentriert und aufmerksam mit den Aussagen der Jury im Hinterkopf, u. a. darüber, dass es sich um einen Text handle, der so klein und unscheinbar daher komme, was ihn großartig mache. Und siehe da, mir gefällt, was ich gerade gelesen habe. Der Text liefert ein äußerst treffendes Abbild unserer Gesellschaft. Eine subtile Gesellschaftsstudie, in der viel Wahrheit steckt, einfach und schön, bei mir kommt melancholische Stimmung auf. Den Gegenstand aus dem Titel, den Schrank, finde ich ebenfalls ein gelungenes, zentrales Symbol. Nach der Lektüre möchte ich auf einmal ganz klein werden und mich in einem Schrank verkriechen. Keiner da, also ab nach draußen in die sommerliche Hitze während der kurzen Mittagspause.

Dann am Nachmittag direkt ins Studio zur die Live-Ãœbertragung. Ich sitze in der ersten Reihe auf dem Sofa, der lesende Autor keine zwei Meter entfernt. Ein junger Mann (der jüngste in der Runde) mit langen schwarzen Haaren und Anzug, exotischem Touch und leicht androgyn wirkend, setzt sich ans Lesepult. Ein interessanter Auftritt, und ein passender Auftakt für die Geschichte, die er vortragen wird. Wie sich beim Lesen herausstellt, muss er mexikanische Wurzeln haben. Ich bin angetan, wie er die spanischen Begriffe beim Lesen ausspricht. Leider werde ich während der Lesung aber schnell etwas müde, finde das Vorgelesene einfach nicht interessant. Ich weiß nicht so genau, warum. Die Jury erklärt, dass der Text aus sehr komplizierten Sätzen und Formulierungen bestünde, die man zunächst in Ruhe auseinander nehmen müsse. Das scheint die Erklärung für meine Langeweile zu sein. Darauf habe ich ehrlich gesagt erst einmal keine Lust – warum kompliziert, wenn es auch einfach geht? Mich wundert sehr, dass sich alle Jurymitglieder bis auf eines positiv über den Text äußern. Aber gut, weiter geht’s – eine letzte Lesung geht noch, dann reicht es mir für heute mit Informationen und neuen Geschichten, auf die ich mich einlassen soll.

Das drehbare Lesepult
Das drehbare Lesepult

Der letzte Autor des Tages betritt die Bühne, bzw. das Pult. Über ihn habe ich bereits gehört: Er soll in früheren Zeiten als Journalist fiktive Interviews für namhafte Zeitungen verfasst haben. Es hat gedauert, bis der Skandal aufgeflogen ist.

Heute sitzt er offiziell vor seinem fiktiven Text. Hier ist er nun richtig, denkt man sich, diese Vorgeschichte des Autors ist einfach zu gut, um sie zu ignorieren. Er beginnt zu lesen. Ich bin sofort fasziniert, es mag zunächst daran liegen, wie er mit seiner tiefen Stimme ganz besonnen, diesen finsteren, krimi-atmosphärischen Text zu lesen beginnt.

Das Lesepult dreht sich langsam im Kreis, sodass alle Zuschauer ihn einmal von allen Seiten sehen. Dass inhaltlich vieles unerklärt bleibt, stört mich ausnahmsweise nicht. Der Protagonist im Text trägt den gleichen Namen wie der Autor, es scheint auch andere Parallelen zu seinem Leben zu geben. Und genau das, dass der Mann vor mir auch ein wenig von sich zu erzählen scheint, während er unter anderem gewaltige Themen wie Verlust, Sehnsucht, Kummer (Achtung, Wortspiel!) und Erlösung anschneidet – alles eingepackt in nächtliche Taxifahrten (auch in Form von Dialogen mit den Fahrgästen) – packt mich so sehr. Was geht in dem Protagonisten und Autor wirklich vor und welche dunkle Vergangenheit gibt es hier? Auch wenn ich nicht alles verstehe, es muss nicht sein, das Mutmaßen macht Spaß. Einmal abgesehen davon, ist der Text sehr »vielschichtig«, das bestätigt die Jury.

Der letzte Autor des zweiten Tages am Lesepult
Der letzte Autor des zweiten Tages am Lesepult

Es ist toll, in Klagenfurt zu sein und diesen Live-Literaturwettbewerb mitzuverfolgen. Nach den fünf Lesungen gestern und heute fühle ich mich zwar gefordert, und ich habe viele Informationen und Eindrücke absorbiert, aber die Veranstaltung macht Spaß.

Bachmanntagebuch 2019: 3
Im Ein- und Ausgangsbereich

Für mich als »Branchenfremde« gelingt das Abschalten vom Alltag durch das Eintauchen in dieses kleine, neue Universum sehr gut. Es ist bereichernd, sich mit verschiedenen Leuten so direkt über bisher nicht veröffentlichte Literatur auszutauschen.

Die bunte Welt von Klagenfurt
Die bunte Welt von Klagenfurt

Auch für die Auseinandersetzung mit folgenden Fragen bietet Klagenfurt im Moment die richtige Plattform: Welche Ansprüche habe ich als Normal-Leser an Literatur? Was veranlasst mich, einen Text gut zu finden und mich auf diesen einzulassen? Welche Kriterien ziehen Experten zur Bewertung von »guter Literatur« oder »literarischen Texten« heran? Und mich beschäftigt auch, wie ein Text aussehen sollte, sodass er für diesen Wettbewerb geeignet ist und von der Jury gelobt wird.

Juliane Hartmann

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