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Bachmannpreis 2022: Alle wieder da

Die Wahrheit ist eine Zumutung: Anna Baar hält die Klagenfurter Rede zur Literatur (Foto: ORF/Johannes Puch)
Die Wahrheit ist eine Zumutung: Anna Baar hält die Klagenfurter Rede zur Literatur (Foto: ORF/Johannes Puch)

Der Bachmannpreis 2022 ist eröffnet. Bis zum Samstag wird gelesen. Nach zwei Spezialausgaben ohne Publikum sitzt es wieder dichter den je. Gelesen wird jedoch im Garten. Anna Baar beeindruckte mit ihrer »Rede zur Literatur«.

Schnittchen und Kaltgetränke

Nach der Eröffnung im ORF-Garten (Foto: Tischer)
Nach der Eröffnung im ORF-Garten (Foto: Tischer)

Es gab Schnittchen satt und Kaltgetränke. Am Mittwochabend (23.06.2022) wurden die 46. Tage der deutschsprachigen Literatur (vulgo »Bachmannpreis«) eröffnet. Und alle waren sie wieder da und vor Ort in Klagenfurt: die 14 Autor:innen, die 7 Kritiker:innen, die vielen Menschen aus dem sogenannten »Literaturbetrieb« und andere Fans und Zuschauer. Selbst Gesichter, die man bereits vor der speziellen Corona-Zeit länger nicht in Klagenfurt gesehen hatte, sind diesmal wieder da, wie beispielsweise die beiden Bachmannpreis-Gewinner Kathrin Passig und Tex Rubinowitz.

2020 fand der Literaturwettbewerb rein virtuell per aufwändiger Digitalschalte statt. Die Lesungen waren aufgezeichnet, die Kritiker saßen in ihren Wohnzimmern. 2021 kehrten dann die sieben Kritiker ins Studio an den Wörthersee zurück, die Autor:innen waren jedoch weiterhin nicht in Klagenfurt. Ein Saalpublikum gab es nicht.

Im Jahre 2022 ist alles wieder normal. Normal? Nicht ganz.

Lesende und Kritisierende immer noch getrennt

Hier wird gelesen: Die neue Außenbühne im ORF-Garten (Foto: Tischer)
Hier wird gelesen: Die neue Außenbühne im ORF-Garten (Foto: Tischer)

Obwohl vor Ort, sind Kritiker:innen und Autor:innen weiterhin getrennt. Allerdings ist dies eine konzeptionelle Entscheidung. Im Garten vor dem ORF-Studio in Klagenfurt ist eine überdachte Open-Air-Lesebühne aufgebaut. Dort werden die Autor:innen vor Publikum lesen. Im ORF-Studio sitzen weiterhin die Kritiker, ebenfalls vor Publikum. Innen und außen sind mit Ton und Monitoren verbunden. Das trennt zwar dramaturgisch die Lesenden von den Kritisierenden, setzt diese aber auch nicht mehr wie die Angeklagten vors Kritikergericht. Drinnen moderiert Christian Ankowitsch die Diskussion, draußen Cecile Schortmann die Lesung. Wer rechtzeitig kommt, kann sich einen Publikumsplatz vor der Lesebühne im Garten oder im Studio sichern. Ein Wechsel ist jedoch nur während der Pausen möglich. Leichten Regen kann das Außendach ab, wenn’s stärker schüttet, wird halt doch drinnen gelesen.

Hier wird gelesen: Die neue Außenbühne im ORF-Garten (Foto: Tischer)
Hier wird gelesen: Die neue Außenbühne im ORF-Garten (Foto: Tischer)

Nach der obligatorischen Jazz-Musik und den üblichen zähen Gesprächen mit Honoratioren, Veranstaltern und Sponsoren, wurde am Eröffnungsabend die Lesereihenfolge der kommenden drei Tage ausgelost.

Nicht nur mit Blick auf den nahen Krieg in Europa wurde in vielen Wortbeiträgen betont, wie wichtig die Literatur sei und dass man von ihr gerne Aufarbeitung, Einordnung und Antworten haben möchte. Ob das die 14 Texte leisten können?

Anna Baar: »Die Wahrheit ist eine Zumutung«

Die Jury lauscht der Rede von Anna Baar. Die Jury selbst ist identisch mit der des Vorjahres. (Foto: ORF/Johannes Puch)
Die Jury lauscht der Rede von Anna Baar. Die Jury selbst ist identisch mit der des Vorjahres. (Foto: ORF/Johannes Puch)

Antwort kam direkt am Eröffnungsabend. Die sogenannte »Klagenfurter Rede zur Literatur« hielt in diesem Jahr die in Klagenfurt aufgewachsene und lebende Anna Baar. Die Autorin war 2015 Teilnehmerin in Klagenfurt und schaffte es auf die Shortlist. Beige gekleidet saß Baar auf einem Glashocker vor einem Glaspult und las ihre Rede mit dem Titel »Die Wahrheit ist eine Zumutung«. Der Titel spielt auf das oft verwendete Bachmann-Zitat an: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«

Für Baar sei dieser Satz »aus dem Großen und Ganzen ihrer Gedanken gerissen«. Er sei »zur Verfechtung von vermeintlichem Wissen missbraucht worden« und tauge »nicht einmal mehr als Klospruch«.

Das Saalpublikum am Eröffnungsabend. Oben Links twittert der Autor dieser Zeilen. (Foto: ORF/Johannes Puch)
Das Saalpublikum am Eröffnungsabend. Oben Links twittert der Autor dieser Zeilen. (Foto: ORF/Johannes Puch)

Das Ingeborg Bachmann ihre Heimatstadt alles andere als liebte und dort eher litt, ist hinlänglich bekannt. Kritiker:innen des nach ihr benannten Preises weisen immer wieder gerne darauf hin. Wenn Anna Baar ihre eigene Kindheit in Kärntens Landeshauptstadt mit der Bachmanns vergleicht, klingt das zunächst abgegriffen. Man denkt schnell an Josefs Winklers Rede von 2009, in der der Autor mit der Stadt abrechnete.

Doch Anna Baar bleibt im Wort literarisch und deutet gekonnt an. Einiges muss man sich als Nicht-Einheimischer ergoogeln, um es einzuordnen. Ohne es explizit zu benennen, berichtet Baar von den Jugoslawienkriegen, deren Schüsse oder Überflieger hier im Grenzland zu hören waren. Gleichzeitig löste beim Bachmannpreis 1991 der Text von Urs Allemann einen Skandal aus. Der Kinderschändertext erhielt schließlich den Landespreis, weil er »formal gesehen einer der besten« gewesen sei. Baar setzt dem Literarischen den echten Fall des Kinderarztes Franz Wurst gegenüber, der zahlreiche Kinder missbrauchte. Baar spricht vom Schuldigmachen durch Wegsehen und Schweigen. »Fakten werden ersetzt durch wohlfeile Alternativen. Wo etwas Zumutung ist, nennt man es heute Lüge.«

Die bewegende und gut vorgetragene Rede Anna Baars endet mit einem Aufruf: »Ich fordere Sie auf, den Kindern Geschichten zu geben, aus denen sie Lehren ziehen und sich aufrichten können, Geschichten, die sie ermutigen, das Leben anders zu denken, Geschichten, die sie warnen, auch vor den Wurstkomplizen, die immer noch unter uns sind.«

Innen und außen sehen sich per Monitore. (Foto: Tischer)
Innen und außen sehen sich per Monitore. (Foto: Tischer)

Der Applaus ist lang, und in Gesprächen im Garten wird klar, dass der Fall Wurst die Gemüter in Klagenfurt immer noch bewegt, dass man das Wegschauen erlebt hat.

Die Lektüre der Rede, die im Netz verfügbar ist, und noch einige Dinge mehr verbindet, sei empfohlen.

Bis Samstag wird jetzt gelesen. Wir werden sehen, ob und welche Wahrheiten die 14 Texte des Jahres 2022 bringen werden.

Neues Abstimmungsverfahren

Am Sonntag werden wir es wissen. Dort soll ein neues Abstimmungsverfahren für mehr Transparenz und Spannung sorgen. Es wird keine Shortlist mehr geben. Tatsächlich vergeben die Jury-Mitglieder jetzt 9 bis 1 Punkte. Für die eigenen Autor:innen darf dabei nicht gestimmt werden. Wer die meisten Punkte hat, bekommt den Bachmannpreis. Anders als in den Jahren zuvor, wird die Gewinnerin oder der Gewinner des mit 25.000 Euro dotierten Hauptpreises diesmal erst am Schluss bekannt gegeben. Das Abstimmungsverhalten der Jury soll später im Netz veröffentlicht werden.

Wolfgang Tischer

Wolfgang Tischer twittert unter @literaturcafe und dem Hashtag #tddl. Zudem gibt es Fotos und Videos auf Instagram unter @literaturcafe.de.

Die Lesungen und Diskussionen der Tage der deutschsprachigen Literatur können im Fernsehen auf 3sat und im Internet auf bachmannpreis.orf.at verfolgt werden. Sie finden vom 23. bis 25. Juni 2022 jeweils ab 10 Uhr bis 15:30 Uhr statt (Samstag bis 14:30). Die Preisvergabe ist am Sonntag, 26. Juni 2022.

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