Wer war wer beim Bachmannpreis 2015 in Klagenfurt? Und wer war 2015 überhaupt in Klagenfurt? Es geht am Wörthersee um Rollenverteilung, Deutungshoheit und Ansprüche, sagt Christine Koschmieder.
Aber nach welchen Kriterien?
I Rollenverteilung
Ich bin nicht als Nora Gomringer zum Bachmannpreis gefahren. Auch nicht als Nora Bossong, das weiß ich sicher, denn die fährt nicht zu Literaturwettbewerben, bei denen Literatur zusammen mit aufblasbaren Gummidelfinen verhandelt wird. Als wer also bin ich also nach Klagenfurt gereist? Als Literaturagentin? Als Autorin? Als @FrauKoschmieder?
Die im Feuilleton, am Lendhafen, im Strandbad Maria Loretto, in Literaturblogs und unter dem Hashtag #tddl gehandelte Frage nach dem besten Text, danach, was als Literatur durchgeht, was Literatur leisten kann und soll, ist nicht unabhängig davon zu beantworten, als was ich mich in Klagenfurt aufhalte. Ob ich als Nora G. nach Klagenfurt reise, dem Bewerb als nicht angereiste Nora B. wegen aufblasbarer Gummitiere mangelnden Respekt gegenüber der Literatur unterstelle, oder als Frau K. daran teilnehme, die wiederum die Wahl hat, als Agentin, Autorin oder an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur interessierter Gast teilzunehmen. Interessegeleitet ist jede dieser Rollen: Ich will gewinnen. Ich will meine Autorin gewinnen sehen. Meine Agentinnententakeln ausstrecken. Pommes im Strandbad. Einen berühmten Verleger mit dem Fahrrad im Lendkanal landen sehen. Am Lendhafen twittern. Beim Bachmannwettschwimmen mitmachen. Peter Wawerzinek im Teatro seinen Namen tanzen sehen. Mir bestätigen lassen, dass Daniela Strigl fehlt. Irritiert den Hahnenkampf zur Kenntnis nehmen, zu dem Klaus Kastberger Mitjuror Juri Steiner zu nötigen versucht. Menschen, die mir bisher nur auf Facebook oder Twitter begegnet sind, in der Warteschlange vor der ORF-Toilette kennenlernen.
Ich will mit Jo Lendle über die Einführung einer Ablösesumme verhandeln, wenn ein »Großer« wie Hanser mal wieder einem »Indie« wie der Edition Nautilus einen Autor – wie Abbas Khider – abwirbt. Will herausfinden, ob eine Autorin, deren Haltung zum Feminismus ich nicht teile, mich literarisch beeindrucken kann. Ob die vorauseilende Sympathie für eine Autorin, die viel lacht, sich selbst nicht immer nur ernst nimmt und bei Voland & Quist ist, weiterer hochgeschätzter Independent Verlag, durch ihre Lesung verifiziert wird. Und was das heißt. Ob der alte Affe mit Zucker gefüttert werden will. Oder bereit ist, sich verunsichern zu lassen.
Es geht um Deutungshoheit. Und es geht um Ansprüche. Es geht darum, wer mir nahe ist. Oder was. Meine Favoritin. Meine Sicht, wie Welt erzählt und dargestellt werden darf. Oder soll. Bedient Nora Gomringers multiperspektivischer Text, der vermeintlich einen Todesfall recherchiert, unseren Voyeurismus und macht uns zu Mittätern? Oder will uns hier ein Jurymitglied voyeuristische Motive unterjubeln, um sich damit nicht so allen zu fühlen? Spricht aus Anna Baars »Poetik der Üppigkeit« das Bedürfnis, die Welt anhand ihrer Ausstattung erfahrbar und beschreibbar zu machen, anhand ihrer Tamponhüllen, Gerüche, »Kätzchenleichen« und Granatäpfel? Und wehre ich diesen Text ab, weil ich finde, dass er diesen Anspruch literarisch nicht einlöst, oder weil ich es nicht ausreichend finde, es ihrer Ausstattung und Inneneinrichtung zu überlassen, die Welt und ihr Gefüge zu beschreiben? Soll, muss oder darf Valerie Fritschs Beinprothese als Metapher für andere Beschädigungen gelesen werden, und gelingt es mir, Kriterien für literarische Ablehnung zu entwickeln, ohne Prothesen und Versehrtheit zu bemühen? Warum halte ich Sven Reckers Versuch, der Realität ihre Schmutzwäsche zu entreißen und ohne Vorbehandlung in Literatur zu übersetzen, für nicht zulässig? Bedarf die Realität einer Vorwäsche, um als Literatur durchzugehen? Ist ein Affe ein Mann oder ist der Affe ein Affe?
II Schmutzige Wäsche
Es geht um Ansprüche. Welche Kriterien lege ich an Texte, die nach Klagenfurt eingeladen werden, woran bemesse ich die Einlösung (oder Nichteinlösung) meiner Ansprüche? Was will ich von Klagenfurt, wo setze ich mein Häkchen im reichhaltigen Menü zu kritisierender Aspekte:
- Zu wenig Grexit/»Asylgegner«/Mittelmeerflüchtlinge/Pegida
- Zu freundliche Juroren
- Daniela Strigl fehlt. Kathrin Passig fehlt. Angela Leinen fehlt.
- Inkongruenz von Satzzeichensetzung und Betonung/Performanz
- Kein Fahrrad mehr bekommen
- Das Büffet am Eröffnungsabend (geschmierte Brote)
- Das Büffet beim Bürgermeisterempfang (Nudelvariationen)
Was sagt ein Text, was sagt das Publikum, was sagt der Wörthersee über den Zustand dieser Welt und ihrer deutschsprachigen Literatur? Welche Version stellt sich den Nichtanwesenden über Twitter dar (und rechtfertigt Kathrin Passigs Forderung, im Literaturkurs 2016 den dazugehörigen Text nur anhand der Tweets zu schreiben).
Das Buffet beim Bürgermeisterempfang sagt: Kärnten muss sparen. Richard Kämmerlings sagt: Die Jury ist zu nett. Klaus Kastberger sagt: Ihr habt den Hauptpreis falsch vergeben. Eine Verlegerin sagt: Lies unser Mission Statement, dann weißt du, welche Literatur wir machen. Jemand sagt: Es wird zu wenig aktuelle Realität verhandelt. Jemand sagt: Es fehlt der Mut zum formalen Experiment. Jemand sagt: Wenn experimentelle Sprechweisen, dann bitte nur so und so. Jemand sagt: »Poetik der Üppigkeit«. Jemand sagt: »Jungle Soundtrack«. Jemand sagt: »Der Affe ist ein Affe«.
Die Bilder, die Katharina Poladjan verwendet, gleichen den Handtüchern in ihrem Text: Sauber gefaltet hängen sie über der Stange. Ich bevorzuge dreckige Handtücher. Das sagt mehr über mich als über Katharina Poladjans Text aus. Sven Recker protokolliert Dialoge aus dem Psychiatrie- und Arbeitslosenmilieu gleich transkribierten Tonbandaufnahmen. Wenn ich finde, dass die Realität einer Vorbehandlung bedarf, damit sie als Literatur durchgeht, sagt das mehr über meinen Anspruch an Literatur als über Sven Reckers Text.
Nora Gomringer wäscht die gesamte Ladung dreckiger Wäsche eines Mietshauses. Nora Gomringer wäscht die dreckige Wäsche unter falschem Namen. Nora Gomringer wäscht die schmutzige Wäsche in Nora Bossongs Namen. Nora Gomringer wäscht unser aller schmutziger Wäsche. Sagt Juror Klaus Kastberger.
Ronja von Rönne hat im Vorfeld des Bachmannpreises ihrer Aversion gegen Feminismus Ausdruck verliehen, was einige Menschen so aufgebracht hat, dass sie den Text nicht einmal mehr verlinken und einige seiner Befürworter dazu gebracht hat, die Autorin als heilige Johanna der Meinungsfreiheit zu stilisieren (Scheiterhaufenandrohung inklusive), einige Journalisten offensichtlich um den journalistischen Verstand gebracht und der Toilettenwarteschlange im ORF-Theater Gesprächsstoff geliefert hat. Unter einem so großen Stapel schmutziger Wäsche kann es schwierig werden, einen kleinen Text noch als das zu sehen, was er ist.
Tim Krohn verhandelt Adam, Eva und ein Reh. Klingt nicht nach Schmutzwäsche, ist es letztendlich aber doch. Auch wenn die Jury uns auf die falsche Fährte locken will, wenn sie behauptet, es ginge um die Frage, ob wir Tiere töten dürfen oder nicht, und wenn ja, in welchem Tonfall (Kinderbuch!) und Aufklärungszustand (Baum der Erkenntnis!). Tim Krohn schreibt darüber, wem wir die Verantwortung für unsere schmutzige Wäsche zuschustern, woraus wir unsere Handlungslegitimation beziehen. Ob es reicht, mal eben von Gott oder wahlweise einer anderen übergeordneten Instanz – Jury, Literaturkritik, aufblasbare Gummitiere, Kirschkerne, Stellvertreter-Nora – zu träumen, um die Konsequenzen unserer Handlungen zu legitimieren. Was in diesem Fall macht, dass ein Text, der mich sprachlich und stilistisch nicht reizt, mich trotzdem herausfordert, darüber nachzudenken, was ich vom Bachmannpreis erwarte: Voyeurismus, ein Experimentieren mit Sprechweisen, das Übertreten moralischer Absperrbänder, Bonmots von Juryseite oder eben Theresa Präauers »Jungle Soundtrack«, der meine schön vorsortierte Wäscheladung durcheinander bringt und mir klar macht, dass ich von Literatur doch etwas anderes erwarte als von meiner Waschmaschine.
Gib der Krake Häschen!
Bleibt zu fragen, woran sich Respekt bemessen lässt und ob ein allgemeingültiges Klagenfurt-Kriterium vonnöten ist. Bleibt die Frage, ob ein Schwimmwettbewerb mit aufblasbaren Gummitieren von Respektlosigkeit gegenüber Literatur zeugt oder einfach nur ein Teil des Rahmenprogramms ist, dem fernzubleiben jedem so freisteht wie die Entscheidung, am Bürgermeisterempfang teilzunehmen, nicht bis zum Morgengrauen im Teatro zu tanzen, alle Texte nach der Lesung noch einmal zu lesen oder wahlweise Zustand, Verfall oder fehlenden Anspruch der Gegenwartsliteratur zu beklagen. Bleibt, endlich den Text unterzubringen, der Schmutzwäsche, Literatur und Brille, durch die wir sie betrachten, das passende Bild liefert: Dana Grigorceas Text »Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit«. Das Bild vom Fernsehbildschirm, beklebt mit einer dreifarbigen Folie, um Farbfernsehen zu simulieren: oben blau, in der Mitte gelb, unten rot. Bleibt, zu entscheiden, durch welchen Farbstreifen wir die Welt betrachten wollen. Welche Literatur wir wollen. Wie wir sie beschreiben und bewerten. Und in welcher Rolle wir dazu antreten.
Und während die eine Nora den Schwimmtieren fernbleibend als Figur im Siegertext trotzdem am Bachmannpries teilnehmen kann, die andere Nora Respekt vor der berüchtigten Wörtherseekrake zeigt (die sich jedoch vorzugsweise Häschen aus dem Häschenkurs einverleibt) und ich ein paar Kirschkerne über den Steg spucke und diesen Bericht mit Bildern von Menschen versehe, die 2015 gar nicht da waren, von Schwimmwettbewerbssiegerinnen, die 2015 gar nicht gesiegt haben, bleibt noch, einander in verteilten Rollen zu gratulieren und in verteilten Rollen weiter zu leben.
Christine Koschmieder ist Literaturagentin, Autorin und seit Jahren Bachmannpreisbesucherin. Frau Koschmieder twittert (nicht nur von dort) unter @FrauKoschmieder.
Dieser Text erschien zunächst in ihrem Tumbler-Blog und wurde uns von der Autorin freundlicherweise fürs literaturcafe.de zur Verfügung gestellt.
Alle Fotos in diesem Beitrag stammen ebenfalls von der Autorin.
Ja, da will und erwartet sich vom Bachmannpreis jeder etwas anderes und es wird auch Leute gegeben haben, die einfach nur wegen der Literatur hingefahren sind oder sich den Bewerb deshalb im Fernsehen angesehen haben und wenn man live vor Ort war, hat man noch etwas anderes, als die Texte und die Jurydiskussionen erlebt, konnte am Buffet naschen, mit den Verlegern verhandeln, im See schwimmen etc.
Ich habe es mir nur per Laptop angesehen und keine Insidergespräche geführt, die Jury ihr Amt tun lassen, mich manchmal über ihre vielleicht etwas verschlafen oder sonstwie arrogant klingenden Bemerkungen geärgert, den Bewerb heuer sehr interessant gefunden und habe ich darüber auch!
Muss, kann, sollte ich das lesen?
Ich habe schon nach dem ersten Satz aufgegeben.
Ist das eine Glosse? Böse Polemik? Versöhnliche Kritik?
“Passiert” in dem Text noch irgendwas?
Ja ein bißchen habe ich es auch unverständlich gefunden, aber jeden interessiert halt etwas anderes und wenn man schon nach Klagenfurt kommt, dann will man vielleicht auch kritisieren, sich profilieren, etc
Große Frage: Wieso geht, anscheinend außer meiner Person, Burkhard Spinnen niemandem ab? Er war als Juror doch einfach unschlagbar; unvergesslich ist mir sein Kommentar zum Beitrag einer von ihm eingeladenen Autorin – “Ich hab mich in den Text verknallt”, kurz und bündig und total schlüssig hat das geklungen! Nicht nur ein wirklich sympathischer Zeitgenosse ist er auch als Schriftsteller nicht zu unterschätzen: Sein Roman “Nevena” ist gutes Handwerk, eine schöne, durchdachte Arbeit, die man nicht so gern aus der Hand legt.