Was haben Marcel Reich-Ranicki, Volker Weidermann und Denis Scheck gemeinsam? Alles namhafte Kritiker – klar. Darüber hinaus …? Genau: Es handelt sich um namhafte Kritiker mit einer offensichtlichen Vorliebe für eine bestimmte Vokabel, nämlich für das überaus schöne Wörtchen »larmoyant«. – Von Isolde Reutter.
Was ist eigentlich das larmoyanteste Werk der deutschen Literatur? Vielleicht Goethes Werther?
Laut DUDEN wird dieses schöne Wörtchen »bildungssprachlich, meist abwertend« verwendet. Massiv abgewertet wurden auf diese Weise, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe: Ingeborg Bachmann durch Marcel Reich-Ranicki und Anke Stelling durch Volker Weidermann. Und weil aller schlechten Dinge drei sind, hat Denis Scheck im »lesenswert quartett« des SWR bei der Besprechung von Deniz Ohdes Aufsteigerroman Streulicht nochmal eine gewaltige Schippe oben drauf gelegt und dieses Buch dermaßen begründungsfrei abqualifiziert, dass sein Mitstreiter Ijoma Mangold fassungslos fragte: »Warum können Sie denn nicht eine minimal weniger radikale Position einnehmen? Das verstehe ich nicht!«
Hängt diese Radikalität vielleicht damit zusammen, dass hier gewisse Abwehrmechanismen mit im Spiel sind? Und was genau muss bei der Besprechung von Aufsteigerliteratur abgewehrt werden?
Verdrängung der Klassengesellschaft
Zum einen haben wir Deutschen die Vorstellung, in einer Klassengesellschaft zu leben, schon immer gern verdrängt. Wer hier sozialisiert worden ist und in Großbritannien zu leben kommt, wird staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen dort ihre Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse benennen und ins Feld führen. »Im Vergleich dazu haben wir verschämte Klassenverhältnisse«, stellt der Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey fest. In einem kürzlich erschienenen SZ-Interview analysiert er, wie es in Westdeutschland auch aus Gründen der Systemkonkurrenz mit der DDR nicht möglich war einzuräumen, dass es auch in einer aufstrebenden sozialen Marktwirtschaft größere soziale Gefälle gibt. Die bloße Möglichkeit des Aufstiegs für alle wurde zum Feigenblatt für eine »Tradition der Klassenleugnung«.
Wenn uns das mal bloß nicht schon wieder an Denis Scheck erinnert, der sagte: »Wir leben hier in einer Gesellschaft, die eine große Möglichkeit des Aufstiegs einräumt, das möchte ich doch in irgendeiner Weise von einer Figur auch mitreflektiert haben!« In anderen Worten: Die Erzählerin soll doch bitteschön einfach nur dankbar sein und nicht so viel über schwierige Verhältnisse reflektieren. Ist doch blöd, wenn es am Ende noch so aussieht, als lebten wir tatsächlich in einer Gesellschaft, in der soziale Unterschiede eine Rolle spielen …! Der oben erwähnte Gesellschaftswissenschaftler ist da redlicher: Er bemüht das Bild der Rolltreppe, um zu zeigen, was sozialer Aufstieg oft bedeutet: eine Rolltreppe hochzulaufen, die nach unten läuft, während andere vergleichsweise bequem auf einer hochlaufenden Treppe nach oben getragen werden. Wie arrogant Denis Scheck doch wirkt, wenn er eine, die das anstrengende Hochlaufen auf der gegenläufigen Treppe beschreibt, als langweilig und larmoyant bezeichnet! Aber er ist ja in guter Gesellschaft. Auch Thea Dorn aus dem anderen Quartett befleißigt sich gern solcher Abwehrmechanismen, um die falschrum laufende Rolltreppe als Lappalie abzutun und PVC und Terrakotta als irgendwie so ungefähr das Gleiche darstellen zu können. So manche Aufsteigerin würde sich da ein wenig mehr Empathie und Feingefühl in der Besprechung von Literatur wünschen.
Ist Denis Schecks Kritik misogyn?
Zum anderen lässt Schecks polemische Wortwahl (»reiner Sozialkitsch«, »Westentaschen-Eribon«) noch einen anderen Verdacht aufkommen: Sind es womöglich vor allem Autorinnen, deren Aufsteigerbücher als »larmoyant« abgewehrt werden und abgewertet werden müssen? Wenn man die Begriffe »Literatur« und »larmoyant« googelt, findet man auf 54books.de eine gut recherchierte und kluge Studie von Nicole Seifert, in der sie »Misogynie in der Literaturkritik« untersucht: »[…] Verrisse widmen sich überwiegend Büchern, in denen spezifisch weibliche Lebensumstände oder gesellschaftliche Missstände geschildert werden […]. Allen Besprechungen gemein ist, dass diese Probleme inhaltlich nicht aufgegriffen, sondern abgewehrt und als Vorwurf […] zurückgespielt werden.« Denis Schecks Kritik an Deniz Ohdes Debütroman ist hierfür ein Paradebeispiel: Der Erzählerin wird »intellektuelle Schmalspurigkeit« vorgeworfen, weil sie sich der Mehrheitsgesellschaft gegenüber nicht dankbar genug zeigt, und so wird sie auf ihren ursprünglichen Platz ganz unten zurückverwiesen.
Einen schlechteren Umgang mit Aufsteigerliteratur kann man sich kaum vorstellen, doch es gibt Lichtblicke in der deutschen Literaturlandschaft: Schon zweimal hat die Mannheimer Stiftung Noon Foundation den Literaturpreis »Aufstieg durch Bildung« ausgelobt (2018 und 2021). Inspiriert durch Ulla Hahns Das verborgene Wort macht es sich die Stiftung zur Aufgabe, Texte zu fördern, die »jenseits geradliniger Aufsteigererfolgsgeschichten« die vielfältigen Ambivalenzen zum Ausdruck bringen, die ein Klassenwechsel mit sich bringt. Deniz Ohdes Roman Streulicht erzählt sehr klug von diesen Ambivalenzen, wie Insa Wilke und Sandra Kegel im »lesenswert quartett« aufgezeigt haben.
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich muss man nicht jede Art von Aufsteigerliteratur gut finden – unbedingt darf man begründet (!) darüber diskutieren und streiten, welche Texte inhaltlich interessant und literarisch anspruchsvoll genug sind, um Lob oder gar einen Preis zu verdienen!
Äußeres Entkommen und innere Fallstricke
Interessanterweise hat die Noon Foundation ihren diesjährigen Preis für den Roman Ein Mann seiner Klasse an Christian Baron verliehen (Jurybeiträge, Lesung und Preisverleihung sind auf YouTube online). Ausgerechnet diesen Roman hatte der Streulicht-freundliche Ijoma Mangold als Beispiel dafür angeführt, dass das Genre Aufsteigerliteratur so leicht völlig danebengehen könne, und er bezeichnete Ein Mann seiner Klasse als misslungen, weil der Text »voller Determinismus und Kolportage« sei. Ich teile seine Einschätzung, dass Ein Mann seiner Klasse nicht eben der gelungenste Aufsteigerroman des vergangenen Jahres ist: Die vom »lesenswert quartett« wie auch von der Noon Foundation vielbeschworene Ambivalenz eines sozialen Aufstiegs ist ja doch meistens viel komplexer als die Scham nach außen und die heldenhafte Loyalität nach innen, die Christian Baron beschreibt. Im Gegensatz zum SZ-Kritiker Felix Stephan, der sowohl Christian Barons Ein Mann seiner Klasse als auch Bov Bergs Serpentinen als inhaltlich verwandte Aufsteigerromane besprochen hat, halte ich das letztere Buch für sehr viel interessanter und anspruchsvoller, weil es zeigt, wie ein äußeres Entkommen aus schwierigen Verhältnissen immer wieder durch innere Fallstricke infrage gestellt werden kann, die über mehrere Generationen hinweg bewältigt werden müssen.
Was heißt »larmoyant« auf Englisch?
Lohnenswert ist auch ein Blick über den Tellerrand der deutschen Literatur hinaus.
Denis Scheck fragte sich, ob er jemals in der US-Literatur ein Buch einer Vertreterin einer Minderheit gelesen habe, die so larmoyant von sich erzähle. Spontan fallen mir dazu der Aufsteigerroman A Little Life von Hanya Yanagihara ein und die Romane von Celeste Ng. Sie wurden von der Kritik gefeiert, müssten hierzulande aber womöglich als »larmoyant« gelten. Übrigens: Was heißt eigentlich »larmoyant« auf Englisch? Und was sagt das über uns aus, dass es eine vergleichbar gebräuchliche Vokabel in der englischsprachigen Welt einfach nicht gibt?
Der DUDEN definiert den Begriff »larmoyant« als »sentimental-weinerlich; mit allzu viel Gefühl [und Selbstmitleid]«. Aber wer legt fest, was »allzu viel« ist, und wem nützt diese Festlegung? So zu fragen, haben wir ja nicht zuletzt aus Anke Stellings Aufsteigerroman Schäfchen im Trockenen gelernt.
Dem Tübinger Schriftsteller Joachim Zelter verdanke ich den Hinweis auf eine wunderbare Stelle im Werk des Gefängnisdichters Ernst Siegfried Steffen:
»Steffen, du bemitleidest dich! – Wer sonst?« (Lebenslänglich auf Raten). Ja, warum sollte man nicht ein wenig Mitgefühl mit sich selbst haben dürfen, wenn einem viel abverlangt wird? Wir denken hier nochmal an die erwähnte Rolltreppe …
Das Gebot der Larmoyanz
Anke Westphal hat in einer Rezension zu Rita Kuczynskis Roman Staccato darauf hingewiesen, dass »In der Antike das Klagen nicht als larmoyant [galt], sondern als Gebot von Sitte und Moral; und in einigen ost- und südeuropäischen Ländern ist das heute noch so.« Sie entlarvt auch, dass die Larmoyanzvorwürfe westlicher Kritiker an ostdeutsche Autoren oft nichts anderes enthüllen »als ihre enttäuschten Hoffnungen auf Dankbarkeit und vollkommene Anpassung ehemaliger DDR-Bürger«. Ein derart Enttäuschter von der »Vertreterin einer Minderheit« ist vielleicht auch Denis Scheck.
Gut, dass Autor:innen wie Anke Stelling, Bov Bjerg oder Deniz Ohde ihren Büchern trotzdem beides eingeschrieben haben: die Freude und das Leiden an dem sozialen Aufstieg, den sie beschreiben. Nur wenn Menschen, die mit Hindernissen und Leid konfrontiert sind, angemessen klagen dürfen, ohne dafür diffamiert zu werden, erhält unsere Gesellschaft ein menschliches Gesicht, und deshalb werde ich nicht aufhören, es zu singen:
das Lob der Larmoyanz!
Deniz Ohde: Streulicht: Roman. Gebundene Ausgabe. 2020. Suhrkamp Verlag. ISBN/EAN: 9783518429631. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Deniz Ohde: Streulicht: Roman (suhrkamp taschenbuch). Taschenbuch. 2021. Suhrkamp Verlag. ISBN/EAN: 9783518471746. 12,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Extrem guter Text und ich freue ich, dass in letzter Zeit das Thema soziale Klasse wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt, sei es durch Autor:innen wie Anke Stelling und Deniz Ohde oder auch durch Journalist:innen wie Anna Mayr, die völlig verschiedene Seiten von Klassismus und Aufstieg in den Blick nehmen. Auch der Sammelband „Klasse und Kampf“ von Baron und Barankow, der eben erschienen ist, macht diese Aktualität deutlich.
Vielen Dank für den Hinweis! Ich kannte Anna Mayr noch nicht und habe jetzt einen sehr interessanten Abend damit verbracht, mich über diese Journalistin und die Klassismus-Debatte in der ZEIT zu informieren. In einer taz-Rezension zu Mayrs „Die Elenden“ wird auch Christian Baron erwähnt und damit schließt sich der Kreis zu meinen Überlegungen…
Herzlich, Isolde Reutter
Ein spannender Beitrag. Klagen bei den orientalischen Völkern, Beherrschung bei uns im
Westen. Man denke nur an die „Haltung“ der Kennedy-Witwe nach dem Tod des Präsidenten. Keine Tränenflut, und das wurde und wird bei uns stets bewundert. Zum Nachdenken.
Monika Buttler.
Ach, Leute.
Nehmt doch den Denis nicht so furchtbar ernst. Er ist halt ein alter, weißer Mann. So what?
Ein Mann von gestern.
Bildet euch selbst eine Meinung.
Wer einmal gesehen hat wie Scheck in geradezu manischer Art von ihm unwertgeschätzte Bücher über ein Förderband in einen Abfallkübel entsorgt hat, kann sich über den Charakter dieses angeblich so wichtigen Kritikers ein Bild machen. Nicht nur er sondern einige andere Kritikerfiguren sind nichts weiter als durch TV oder andere Kanäle gehypte Problembär*innen, die von Verachtung leben. Allerdings. Sein Verhältnis zu weiblichen Autoren ist nicht wirklich krankhaft resistent. Das Buch einer literarischen „Aufsteigerin“ als im Zwischenstromland schürfende Geologin (Titel vergessen) hat er mehr als über den grünen Klee gelobt.