Im Herbst 2007 habe ich zum ersten Mal von Lesebühnen gehört. Relativ spät für jemanden, der sich seit Jahren in der Literaturszene herumtreibt. Relativ spät auch angesichts der Tatsache, dass die erste Lesebühne bereits 1989 gegründet wurde. Allerdings lebe ich in Hamburg. Und Hamburg hat mit LÄNGS nur eine Lesebühne, im Gegensatz zu Berlin, wo um die 15 Lesebühnengruppen munter koexistieren.
Eine Lesebühne ist ein festes Autorenensemble, das einen regelmäßigen Termin – manche monatlich, manche wöchentlich – in einer Kneipe, einem Club oder einem Kulturhaus hat, zu dem die Literaten ihre eigenen Texte vorlesen. Anders als bei Poetry Slams, stehen die meist drei bis zehn Autoren dabei in keinem Wettbewerbsverhältnis. Manche Lesebühnen laden auch Gastautoren ein. In Berlin, wo die Dichte der Lesebühnen mit Abstand am größten ist, leihen sich die verschiedenen Gruppen ihre Autoren auch untereinander aus. Viele Berliner Lesebühnenautoren sind bei zwei oder mehreren Lesebühnen Mitglied.
Ivo von der Berliner Lesebühne LSD (Liebe Statt Drogen) stellt im Nachwort zum nach der Lesebühne benannten Buch-mit-CD-Paket fest, dass sich Lesebühnentexte vor allem durch drei Eigenschaften auszeichnen: Die Texte sind kurz und zumeist witzig, sie sind zu 90 % aus der Ich-Perspektive geschrieben und an eine besondere Kommunikationssituation gebunden, d.h. sie sind für den Vortrag auf der Bühne geschrieben.
Beim Versuch, die Texte darüber hinaus zu kategorisieren, gerät man leicht ins Schleudern. Die Spannweite der Genres und Ausdrucksformen reicht von Comedy, Satire, Kabarett über feuilletonistische Betrachtungen bis hin zu Spoken Word und Lyrik.
Das Problem bei der Kategorisierung ist, dass sich von alldem viele Lesebühnen auch abgrenzen: »Das alte Kabarett ist unser Feind«, zitiert Henryk M. Broder einen Berliner Lesebühnisten (SPIEGEL 6/2000). Man geht nicht mehr »zu einer Lesung«, sondern »auf eine Lesung« – wie auf ein Konzert, stellt Verena Carl fest. Lesebühnen sind Off-Kultur, früher wie heute wie zwischendrin, als die Presse auf das Phänomen aufmerksam wurde.
Sind Lesebühnen die Literatur-Punks? So ungefähr, auf jeden Fall ist Bier ein beliebtes Getränk und Alkohol ein beliebtes Thema. Die Themen der Texte sind weitläufig: Tagesaktuelle treffen auf Alltagsthemen, Mediendebatten koalieren mit Saufen, Sex und Politik und ergeben eine wilde Mischung aus Literatur rund um Peinlichkeiten, Sinnlosigkeiten, Widrigkeiten und Antiheldentum. Oft finden eigene Erlebnisse ihren Weg in Vortrag und Text, was wiederum einen Teil der Authentizität der Veranstaltung erklärt.
Authentizität ist ein gutes Stichwort: Zwischen den Lesebühnen und ihrem Publikum herrscht eine geringe Distanz – hinsichtlich der Themen, hinsichtlich des Lebensstils, mit Blick auf die räumliche Enge bei den Lesungen und auf die Tatsache, dass viele Lesebühnen ihr festes Stammpublikum aufgebaut haben. Die Autoren duzen sich untereinander und auch das Publikum; zumindest LSD und LÄNGS begrüßen jeden Gast persönlich am Eingang, letztere mit Wodka – andere Gruppen sicher auch, allein, um den Eintritt zu kassieren, der je nach Stadt zwischen drei und fünf Euro variiert.
Diese persönliche Note bzw. das Empfinden, dass da auf der Bühne »Leute wie du und ich« stehen, wird durch Versprecher beim Vorlesen nochmal verstärkt. Versprecher sind erlaubt, das Unperfekte gehört auch nach Jahren der Bühnenerfahrung dazu. Dass die Performance dennoch überwiegend überzeugt, zeigt sich bei Lesebühnen schnell: Wer sein Publikum nicht durch knackige und gut vorgetragene Texte an sich binden kann, der ist es schnell los.
Manche Lesebühnen haben zudem einen »interaktiven« Part im Programm, eine offene Bühne etwa (bei LSD) oder den BILD-Zeitungs-Slam (bei LÄNGS).
Ivo findet für die kumpelhaft-familiäre Atmosphäre, für die Bewunderung der Autoren, die nahezu alle nicht vom Schreiben leben können, den Begriff Code Bohemien und meint damit den positiv bewerteten Outlaw-Schreiberling, der »großstädtische Kreativität und Witz« vermittelt. Lesebühnenhumor ist spezifisch und hebt sich ab von Mainstream-Comedy oder Kabarett im Stil von Mathias Richling: Lesebühnenhumor ist überraschend. Aber das kann man nur selbst und am besten live erfahren.
Off-Literatur also. Einige Literaten haben den Wechsel von der Lesebühne in den Literaturbetrieb allerdings sehr erfolgreich vollzogen: Wiglaf Droste (Höhnende Wochenschau), Wladimir Kaminer, Jakob Hein (beide Reformbühne Heim & Welt) oder Horst Evers (Dr. Seltsams Frühschoppen) etwa. Es fällt auf, dass diese vier dem männlichen Geschlecht angehören. Das ist kein Zufall, liest man sich durch die Live-Literaten der Lesebühnenrepublik; rund 40 Männer stehen weniger als 10 Frauen gegenüber. Lesebühnen scheinen eine Männerdomäne zu sein – und ähneln darin den Poetry Slams, wo auch seltener Frauen auftreten. Nach den Gründen für diese geschlechtsspezifische Rampensau-Prozentverteilung mögen die Gender-Forscher suchen.
Entstanden ist die Lesebühnenkultur – und das ist gewiss – in Berlin. 1989 haben einige Journalisten der taz die Höhnende Wochenschau gegründet. Es folgten das Mittwochsfazit und Dr. Seltsams Frühschoppen. Mitte der 90er sprossen die Lesebühnen dann wie Pilze aus dem Berliner Boden, begünstigt durch den Popliteratur-Hype und das Aufkommen von Poetry Slams. Begünstigt aber auch – und das mag zum Teil die hohe Dichte von Lesebühnen in Berlin erklären – durch das Vorhandensein von unsanierten Häusern und willigen Kaschemmenbesitzern, also durch die Leichtigkeit, mit der man eine passende Kneipe fand.
Im Jahr 2000 entdeckte die Presse das Phänomen Lesebühne, initial gezündet durch Henryk M. Broders Artikel im SPIEGEL. Das Interesse der Presse ließ schnell wieder nach – nicht aber das Interesse des Publikums. Die meisten Lesebühnen schaffen es, Monat für Monat oder Woche für Woche, die Kneipen und Kulturhäuser bis zum Platzen zu füllen. Was sind das für Fans? Das Lesebühnenpublikum ist so uneinheitlich wie die Form der Veranstaltung selbst: Literaturfans, Biertrinker, Studenten, Pensionäre, Werber, Ärzte, Schriftsteller, Arbeitslose, Bartender und Referendare, Taxi-, Fahrrad- und Autofahrer. Leser und Nichtleser. Klingt das nach hoher Literatur? Eher nicht. Macht das was? Probiert es aus.
Anika Stracke
Hinweis: Die Autorin ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Lesebühne LÄNGS verantwortlich
Literaturtipp:
- Micha Ebeling; Spider; Volker Strübing; Tube; Ivo & Sascha; Uli Hannemann: LSD - Liebe statt Drogen: Lesebühnenliteratur aus Berlin. Taschenbuch. 2006. Verlag Voland & Quist. ISBN/EAN: 9783938424148
Links im Internet:
Prima Beitrag. Mir fehlt allerdings der kleine Hinweis, dass die Autorin dieses Artikels gleichzeitig für die PR der Lesebühne Längs verantwortlich zeichnet.
Danke für die hilfreiche Anmerkung. Wir haben im Vorfeld intern darüber diskutiert, ob ein entsprechender Hinweis angebracht ist, uns dann zunächst dagegen entschieden, da LÄNGS nicht im Mittelpunkt des Artikels steht. Der Kommentar zeigt aber, dass solche Zusammenhänge aufgezeigt werden sollten, sodass wir den Hinweis nun ergänzt haben.
liebe redaktion
hier in stuttgart gibt es eine beliebte lese bühne rosenau und ich lese seit 2000 in grösseren und kürzeren umständen auf der bühne und hier gibt es sehr gute texte. es lesen hier männer und frauen und das publikum von 16 bis 80 und auch die vorleser. Auf der lesebühne kann man sich publikum machen und auf seine texte aufmerksam. nur blümchenlyrik past nicht auf einen poetyrslam
Mit freundlichen grüssen
Britta khokhr
Bei uns in der Steiermark gibt es ebenfalls derartige Versuche, Literatur „unters Volk“ zu bringen. Mit eher mäßigem Erfolg. Gute Vortragende können zwar aus einem schlechten Text viel herausholen, schlechte Vortragende, und die sind aus meiner Sicht oft in der Überzahl, einen an sich sehr guten Text eher „vernichten“. Ich bleibe daher bei der herkömmlichen Art, Literatur zu genießen – ich lese. *g*, obwohl ich als Autor schon gerne auch „vorlese“ und danach mit den Zuhörern plaudere.
Allerdings werde ich auch weiterhin, schon aus Berufsgründen, derartige „Lesebühnen“ besuchen und erwarte mir künftig hin und wieder positive Eindrücke.