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Warum diese zwei Romane die wichtigsten Bücher 2014 waren

Ausschnitt aus dem Hörbuch-Cover von »Die Chance«

Ein viel diskutierter Bestseller und der Reisebericht über ein Ehepaar, das kurz vor der Scheidung die Hochzeitsreise wiederholt, das waren für mich die wichtigsten und besten Bücher des Jahres 2014.

Eine persönliche Begründung von Wolfgang Tischer.

Dave Eggers: The Circle

Bevor ich in diesem Jahr »The Circle« von Dave Eggers las, habe ich mich gewundert. Gewundert darüber, dass dieses Buch in den Feuilletons besprochen wurde. Gewundert darüber, dass ein Unterhaltungsroman in den Feuilletons besprochen wurde. Und überhaupt nicht gewundert darüber, dass die Besprechungen daher meist negativ ausfielen. Wenn falsche Menschen die falschen Bücher lesen, ist dies normal.

Gleichzeitig wurde »The Circle« im Web und den sozialen Netzwerken diskutiert. Das wiederum war nicht verwunderlich. Kreiert Eggers doch in seinem Roman einen US-amerikanischen Mega-Konzern, der ein soziales Netzwerk betreibt und eine Mischung aus Facebook, Apple und Google ist. Ein Unternehmen, das angetreten ist, die Welt zu verbessern. Beschrieben wird all dies aus der Sicht der kleinen Angestellten Mae, die innerhalb kürzester Zeit eine steile Karriere macht.

Im Netz kam »The Circle« ebenfalls meist nicht gut weg. »Nichts Neues«, hieß es da oder »Langweilig« oder »Platte Geschichte, platte Figuren«. Doch auch hier schien es mir, dass Leute einen Roman lasen, die dies sonst eher vermeiden.

Also tat ich das, was ich selten tue: Ich habe einen Bestseller gelesen. Denn trotz aller kritischen Stimmen stand »The Circle« oben auf der Spiegel-Bestsellerliste. Wobei: Eigentlich war es »Der Circle«, also die deutsche Übersetzung. Und da diese selbst als E-Book mit 20 Euro ziemlich teuer war, habe ich mir das englische Original für nicht mal 5 Euro gekauft.

Wie nicht anders zu erwarten, ist Eggers’ Unterhaltungsroman-Englisch einfach zu lesen. Unbekannte Wörter sind per Fingertipp auf dem E-Reader schnell übersetzt.

Ich war überrascht. Weil ich einen witzigen, satirischen und ironischen Roman gelesen habe. Warum war in keiner Rezension angemerkt, dass es großen Spaß macht, diesen Roman zu lesen? Die Figuren und die Handlung flach? Quatsch! Genau so muss eine Satire überzeichnen. Die unglaublich naive Mae, die alles mit sich machen lässt, ohne die Dinge kritisch zu hinterfragen, genau die habe ich in vielen Facebook-Nutzern aus meinem Bekanntenkreis wiedergefunden.

Ich habe in »The Circle« die absurdesten Szenen des Jahres gelesen. Herausragend war für mich die im scheißfreundlichen Ton gehaltene Befragung durch die Personalabteilung, weil Mae ein ganzes langes Wochenende keine Statusmeldung ins Netzwerk gestellt hat. Wie konnte das passieren?

Bücher, heißt es bei Eggers sinngemäß, sind etwas für Egoisten. Sie ermöglichen keine Kommunikation. Ein Buch endet beim Leser, und niemand kann von seinen Gedanken und Eindrücken profitieren«. Diese rabulistische Argumentation gipfelt später im Roman in der platten Parole »Privacy is theft« – Privatsphäre ist Diebstahl an der Allgemeinheit.

Dass Eggers Maes Arbeitsplatz stets mit mehr Monitoren vollpflastert, ist eine simple und doch anschauliche Art zu zeigen, wie Mae immer mehr gefordert wird. Die unendlichen Zahlenreihen, wie viele Freunde und Beobachter Mae hat, wie viele in Online-Wahlen für sie stimmen und wie sie trotz eines Traumergebnisses von 97% davon zerfressen ist, dass dennoch 3% gegen sie gestimmt haben und wer dies wohl war und aus welchen Gründen – all das zeigt den Sog des Netzwerkes, in den der Leser mit Mae gerät. Auch da erkenne ich in den um Aufmerksamkeit und Liebe bettelnden Facebook-Posts viele Maes wieder. Und seit der Lektüre muss ich breit Grinsen, wenn Leute todernst verkünden, dass sie sich wieder einmal für das Gute in der Welt eingesetzt und bei einer Online-Petition mitgemacht haben.

Eggers auf dem iPhone. Schöne neue Welt?

Oft wurde behauptet, Eggers’ Roman wolle das »1984« oder das »Brave New World« von heute sein, nur um ihm diesen Status gleich wieder abzusprechen. Ich aber sage: Ja, »The Circle« hat den Status dieser Romane, auch wenn Eggers’ schöne neue Circle-Welt bei weitem nicht so weit in der Zukunft liegt wie damals »1984«. Denn ganz ehrlich: Orwells Roman hat weitaus mehr Längen und langatmige Stellen, in denen er seine Pseudophilosophie ausbreitet, als »The Circle«. Dass »The Circle« keine Hochliteratur, sondern zeitgemäße Unterhaltung ist, passt in diese Zeit. Dies dem Roman vorzuwerfen ist so, als stelle man beim Essen einer Tafel Schokolade angewidert fest, dass diese Zucker enthalte. Hierzu zählt für mich auch die Feststellung vieler Leser, dass der Roman nicht sonderlich spannend ende. Auch das habe ich von diesem Buch nicht erwartet, weil seine Stärke in den absurden Einzelszenen liegt. Diese Szenen bleiben – auch über 2014 hinaus.

Wolfgang Tischer

Dave Eggers; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Der Circle: Roman. Gebundene Ausgabe. 2014. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462046755. 22,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Dave Eggers; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Der Circle: Roman. Kindle Ausgabe. 2014. Kiepenheuer & Witsch GmbH. 9,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

Dave Eggers: The Circle (Penguin Essentials) (English Edition). Kindle Ausgabe. 2013. Penguin. 6,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

Stewart O’Nan: Die Chance

Der zweiter Roman des Jahres 2014, der mich tief beeindruckt hat, ist ganz anders. Auch was mich daran beeindruckt hat, ist etwas ganz anderes als an »The Circle«.

Selten hat mich die erzählerische Wucht einer Geschichte so umgehauen wie bei »Die Chance« (»The Odds«) von Stewart O‘Nan. Was bei O‘Nan fasziniert, das ist seine erzählerische Neutralität und die unglaubliche Liebe zu seinen Figuren. O‘Nan beschreibt Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten mit einer Beobachtungsgabe und Genauigkeit, dass man als Leser unmittelbar dabei ist und vieles wiedererkennt, auch wenn einem Orte und Personen zunächst gar nicht vertraut sind.

Hinzu kommt der erzählerische Überbau, der um das Thema »Zufall« kreist. Jede Kapitelüberschrift macht dies deutlich. Was wir sind, was wir werden und was wir sein könnten – alles passiert, alles ist Zufall, alles geschieht mit einer Wahrscheinlichkeit von x zu 100 Prozent. Die Dinge kommen wie sie kommen, und wir sollten sie annehmen, weil sie uns zu einer anderen Wahrnehmung führen. Keine transzendente, sondern nur eine angenehm andere.

Mit dem Ehepaar Marion und Art Fowler, die wir nur drei Tage und dann doch ein ganzes Leben lang begleiten, hat O‘Nan zudem den US-Bürgern ein literarisches Denkmal gesetzt, die in den 2000er-Jahren auf eine Schrott-Immobilie gesetzt haben und damit untergegangen sind. Denn Marion und Art sind pleite. Sie wollen sich scheiden lassen. Zum einen wohl aus finanztechnischen Gründen, zum anderen, weil sie glauben, dass sie sich auseinandergelebt haben. Beide hatten sie ihre Affären, die jedoch lange zurückliegen. Nun sind sie in ihren 50ern.

Mit ihrem letzten Geld unternehmen sie eine Busreise zu den Niagarafällen, wohin sie – wie so viele Amerikaner ihrer Generation – bereits ihre Hochzeitsreise führte. Auf der kanadischen Seite wollen sie ihr ganzes verbliebenes Geld beim Roulette setzen und das Schicksal entscheiden lassen. Alles – die Reise, der Aufenthalt, die Reflexion ihrer Vergangenheit und der Casinobesuch und auch ihre Zukunft – ist ihre Chance.

Nichts Aufregendes passiert in dieser novellenartigen Geschichte, und gerade das ist das Aufregende. Die detailverliebte und sachliche Beschreibung der vielen Rituale dieses Paares lässt den Leser erkennen, dass sich die beiden dann doch so nahe sind, wie keine zwei anderen Menschen auf dieser Welt – auch wenn alles nur scheinbar zufällig so gekommen ist.

Der Roman von Stewart O‘Nan, übersetzt von Thomas Gunkel, beeindruckt durch seine Alltäglichkeit und die erzählerische Präzision. Und obwohl O‘Nan bisweilen aus der Figur des Erzählers heraus- und in seine Figuren hineintritt, stellt er nie die Schuldfrage, weil Zufälle diese obsolet machen. Und indem er es vordergründig nicht ist, ist der Roman nicht zuletzt auch eine Liebesgeschichte. Marion und Art bleiben beim Leser – ebenfalls über 2014 hinaus.

Und will man den stillen Genuss dieser Geschichte noch vergrößern, so lässt man sie sich von Christian Brückner vorlesen, denn es gibt sie als ungekürztes Hörbuch.

Wolfgang Tischer

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Die Chance. Audio CD. 2014. Parlando. ISBN/EAN: 9783941004542. 9,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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