Sie hatten Haus und Vermögen verloren und eine tödliche Diagnose. Raynor Winn und ihr Mann wanderten einfach los. Das Ergebnis war der Bestseller »Der Salzpfad«. Birgit-Cathrin Duval hat die mittlerweile drei Bücher der Autorin gelesen und nähert sich dem Phänomen.
Der Salzpfad: Eine Wanderung mit zwei Anläufen
Ein Ehepaar verliert Haus und Vermögen und zieht in ihrer Verzweiflung wandernd und wild campend auf dem South West Coast Path durch Großbritannien. Darüber schreibt Raynor Winn ein Buch. »Der Salzpfad« avanciert 2019 auf Anhieb zum Bestseller, Winn wird zur bekanntesten Nature-Writing-Autorin Großbritanniens, das Buch verkauft sich weltweit millionenfach. Wie nur konnte dieses Buch zum gefeierten Bestseller werden?
Raynor Winn hat es wieder getan. Sie war wandern. Und hat erneut darüber geschrieben. Mit »Überland« erscheint nach »Der Salzpfad« und »Wilde Stille« bereits ihr drittes Buch. Und wie die beiden Vorgänger eroberte auch dieses die Bestsellerlisten. Weil ich selbst wandere und Bücher übers Wandern und Nature Writing lese, hat mich »Der Salzpfad« interessiert. Bis ich die Leseprobe las und mich das Buch nicht mehr interessierte, weil mich weder der Schreibstil noch der Inhalt reizte. Aber dann kam es anders.
Als ich im Oktober 2022 die Pressemitteilung erhielt, dass inzwischen das dritte Buch von Raynor Winn erscheint, musste ich dem nachgehen. Ich wanderte mit Raynor Winn den Salzpfad. Und während die Seiten wie Salz auf meiner Haut brannten, fragte ich mich immer wieder, warum dieses Buch in den Bestsellerlisten landete und sich millionenfach verkaufte.
Das Buch ist keine literarische Entdeckung, vielmehr ein nett geschriebenes Tagebuch einer Fernwanderung. Davon habe ich viele andere und weit besser geschriebene gelesen. Weder ist der Schreibstil Winns besonders tiefgründig oder witzig, noch stecken besonders inspirierende Erkenntnisse im Buch (das von der Zeitung The Times als »inspirierendste Buch des Jahres« gefeiert wird). Außer, dass unterwegs sein die Lösung ist und glücklich macht. Aber sagen das nicht alle, die dauernd irgendwo unterwegs sind, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, im Bulli oder im umgebauten Camper, sei es mit Laptop auf den Knien als digitale Nomaden oder als Influencer mit inszenierten Life-Style-Szenen schöner Körper und Orte?
Die Geschichte von Raynor und ihrem Mann Moth, der an einer heimtückischen tödlichen Krankheit leidet, wäre nicht dieselbe, hätten sich die beiden eine Auszeit genommen, um den Küstenpfad zu wandern, um danach wieder in ihr altes Leben zurückzukehren. Doch das alte Leben gibt es nicht mehr. Durch ein riskantes Investment in die Firma eines Freundes verlieren Raynor und Winn, beide fünfzig Jahre alt, auf einen Schlag alles, was sie in den letzten 30 Jahren aufgebaut haben. Geld weg, Farm weg, Existenz zerstört. Und ob es nicht noch schlimmer kommen könnte, erhalten sie die Diagnose der schleichenden, tödlichen Nervenkrankheit von Moth. Es ist scheinbar das Ende. Als letzter Ausweg, auch um der Obdachlosigkeit zu entrinnen, motiviert Raynor ihren Mann, mit Rucksack und Zelt loszuziehen. Einen Schritt vor den anderen zu setzen, wird fortan zum Lebenselixier. Als wandernde Backpacker werden sie bewundert, als mittelloses, obdachloses Paar, das die besten Jahre hinter sich hat, gemieden. Mit einem Wanderbuch in den Händen marschieren sie los und auf den folgenden 330 Seiten lesen wir, wie sie mit ihren letzten Pennies Pommes oder Pasteten kaufen, die ihnen dann auch noch von hungrigen Möven vor der Nase weggeschnappt werden, vom Tee und Nudeln kochen, vom Pinkeln in Ginsterbüschen und vom wilden Kampieren abseits der Dörfer.
Worin aber liegt der Erfolg begründet? Zwei, die alles verloren haben außer ihrer Liebe, nehmen ihr Schicksal in die Hand. Jeder Tag muss neu gelebt und überlebt werden. Dem Wetter ausgesetzt, ohne teure Outdoor-Ausrüstung auf der Haut, begegnen Raynor und Moth dem nackten, rauen Leben, dem Ausgeliefert sein und den Schmerzen. In all dem erleben sie eine bisher nie gekannte Freiheit. Ist das das Glück, nach dem sich jeder von uns sehnt?
Selbstbestimmt, ungebunden und frei zu Leben. Echte Kameradschaft finden sie bei denen, die ähnlich im Abseits der Gesellschaft stehen. Und es geschieht Erstaunliches: Das Wandern stärkt Moth seelisch und körperlich, er setzt seine Medikamente ab und findet zu neuer Kraft.
»… wir hatten nichts zu verlieren, und es gab einen guten Grund, weiterzuwandern. Hier waren wir frei, zwar den Elementen ausgesetzt, hungrig, erschöpft und durchgefroren, aber frei. Wir waren frei zu entscheiden, ob wir weitergehen wollen oder nicht … Hier hatten wir immer noch die Kontrolle über unser Leben, über die Folgen unseres Tuns, über unser Schicksal. … Wir entschieden uns, weiterzuwandern, und die Freiheit anzunehmen, die diese Entscheidung mit sich brachte.«
Es ist ein Buch, das ins Mark trifft. Das Mut macht, trotz aller Widrigkeiten und Schicksalsschlägen nicht aufzugeben und das Leben zu bejahen und neu zu gestalten. Raynor Winn hat mit ihrer Geschichte kein literarisches Werk geschaffen, aber in der Zeit der Pandemie eine Botschaft vermittelt, die Leserinnen und Lesern Hoffnung macht. Und in Zeiten wie diesen kann es nie zuviel davon geben.
Wilde Stille: Über Schmerzen und Scheitern
»Der Salzpfad« avancierte über Nacht zum Bestseller, die Autorin wird als Englands neue Nature Writing Ikone gefeiert. Was danach folgt, ist ein weiteres Buch. Hat »Wilde Stille« das Potential, um an den Erfolg des Erstlingswerks anzuknüpfen?
Zunächst muss ich sagen, dass die Bücher von Raynor Winn, die im Verlag MairDumont erschienen sind, einfach schön gestaltet sind. Bei Büchern ist die Umschlaggestaltung oft kaufentscheidend. Auch beim zweiten Buch »Wilde Stille« ist alleine durch die Grafik klar, wer das Buch geschrieben hat. Das Meer, die Wolken, die Möven. Das hat sich eingeprägt. Das Softcover liegt gut in der Hand, lässt sich angenehm lesen. Auch nicht unwichtig. Anders als im ersten Band fehlen dieses Mal die persönlichen Fotografien.
Ich lese. Und bin irritiert. Irgendetwas ist seltsam. Ich komme nicht sofort darauf, aber es ist so, als würde beim Schalten der Gang hakeln. Die Sätze hakeln. Irgendwas ist. Ich schaue nach, wer das Buch übersetzt hat. Der Salzpfad wurde von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair übersetzt. Wilde Stille listet mit Gerlinde Schermer-Rauwolf eine dritte Übersetzerin auf. Liegt es daran? Ich weiß es nicht.
Was erzählt man in einem weiteren Buch, wenn das große Abenteuer vorbei ist? Raynor und Moth haben mit der Wanderung, die sie im Buch »Der Salzpfad« schildert, die große Krise überwunden. Jetzt, wieder im Alltag angekommen, fällt es schwer, die Tage zu meistern. Die Herausforderung fehlt. Bis ihnen ein Unbekannter ein Angebot unterbreitet: Sie können seinen heruntergekommenen Hof neu bewirtschaften. Die beiden sagen zu und stürzen sich auf das neue Projekt.
Das liest sich alles weitaus zäher und mühsamer als das erste Buch. Oft mag ich nicht weiterlesen, quäle mich eher durch die Seiten. Das einzig Spannende daran: Ich lese mehr darüber, wie das erste Buch zum Bestseller wurde.
Raynor Winn hat ihre Erlebnisse aufgeschrieben, um sie für ihren Mann Moth festzuhalten, der immer mehr an Gedächtnislücken leidet. Als die Tochter die Aufzeichnungen liest, ermutigt sie ihre Mutter, die Geschichte einem Verlag anzubieten. Tja, der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.
Im letzten Drittel des Buches dann eine weitere Wanderung. Dieses Mal wandern die beiden in Begleitung eines befreundeten Paares auf den Laugavegur Trail in Island. Und wieder ist man direkt dabei, wenn sich Moth mit dem schweren Rucksack auf den Schultern durch die karge Landschaft quält. Wandern zwischen Schmerzen und Scheitern. Man mag gar nicht mehr weiterlesen, wie bei der Szene, als Moth in einen kalten Mars-Riegel beißt und dabei der Schneidezahn abbricht. Und als sie den Trail tatsächlich geschafft haben, bin ich genauso erleichtert wie die beiden Wanderer, dass es nun vorbei ist.
Überland: Nochmals ein Aufbruch
Als Autor, als Autorin einen Bestseller schreiben, besser geht’s nicht. Doch auf die Freude folgt der Druck, denn die Erwartungen sind hoch. Kann das dritte Buch, das der Verlag, das die Leser fordern, an den Erfolg anknüpfen? Hat »Überland« das Zeug, um an den Erstling »Der Salzpfad« anzuknüpfen?
Jetzt also der dritte Band von Raynor Winn. Wieder diese schöne Grafik, obwohl das Meer fehlt, ist sofort klar, es ist ein Raynor-Winn-Titel. Unter dem Autorennamen steht auch gleich »Autorin von ›Der Salzpfad‹«. Erneut haben die beiden Übersetzerinnen Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair daran gearbeitet, neu dabei ist Rita Seuß.
»Überland« erzählt wieder einmal über den Aufbruch von Raynor und ihrem kranken Mann Moth. Raus aus dem Alltag, der für Moth aufgrund der fortschreitenden Krankheit immer beschwerlicher wird, rein in die Wanderklamotten. Wandern als Aufbruch, als Aufbegehren gegen eine heimtückische Krankheit. Wandern, um dem schleichenden Tod immer einen Schritt voraus zu sein.
Die beiden gehen das Wagnis ein und Wandern weiter als sie es jemals zu träumen gewagt hätten: 1.600 Kilometer auf dem schottischen Cape Wrath Trail und zurück bis in ihre Heimat nach Cornwall.
Die Melodie des Buches ist diesmal stimmig, keine hakeligen Sätze, die mich im zweiten Band, »Wilde Stille« noch störten. Und wieder zieht einem der schiere Wille der beiden in den Bann. Unglaublich wozu der Mensch doch fähig ist. Und man staunt, wie das Wandern Moth neue Kräfte beschert. Es ist das ausgereifte Werk einer gereiften Autorin, tiefgründig, interessant und spannend geschrieben. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die das Leben feiern, trotz aller Widrigkeiten, die das Wandern nun mal so mit sich bringt. Von wunden Füßen und nassen Klamotten. Und wie herrlich eine Tasse Tee schmecken kann.
Ich beginne zu verstehen, warum »Der Salzpfad« und gewiss auch »Überland« Bestseller wurden. Es ist der Stoff, aus dem Geschichten erzählt werden. Die Heldenreise, die jeder erfolgreichen Geschichte zu Grunde liegt. Der Quest, die archetypische Grundstruktur, der Aufbruch ins Ungewisse, die Herausforderung, die Transformation und die veränderte Rückkehr. Die Wanderung als Zyklus, als reinigendes Ritual. Dazwischen die Weigerung des Helden, Herausforderungen, die schier unüberwindlich erscheinen, anzupacken mit der Hilfe von Mentoren.
Raynor Winn hat einen Heldenepos geschaffen. Unbeabsichtigt ist sie der Grundstruktur gefolgt, aus denen erfolgreiche Geschichten geboren werden.
Tatsächlich staunt man, wenn man den Epilog am Ende des Buches liest, dass eine Wanderung einen Menschen derart beflügeln kann. Man kann es kaum glauben. Mögen ihr noch viele Jahre mit dem Held ihrer Geschichte vergönnt sein!
Abgesehen von »Wilde Stille« faszinieren die Bücher von Raynor Winn mit den Schilderungen der Wanderungen, die sie mit ihrem schwerkranken Mann bewältigt. Für mich ist damit die Trilogie abgeschlossen. Ein weiteres Buch über eine weitere Wanderung werden vermutlich nur noch Raynor Winn Fans lesen. Gespannt bin ich dennoch, was als nächstes Buch von der Autorin erscheinen wird und was es zum Inhalt hat.
Birgit-Cathrin Duval
Raynor Winn; Christa Prummer-Lehmair (Übersetzung); Heide Horn (Übersetzung): Der Salzpfad: SPIEGEL-Bestseller (DuMont Welt - Menschen - Reisen). Broschiert. 2020. DUMONT REISEVERLAG. ISBN/EAN: 9783770166886. 16,95 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Raynor Winn; Gerlinde Schermer-Rauwolf (Übersetzung); Christa Prummer-Lehmair (Übersetzung); Heide Horn (Übersetzung): Wilde Stille: von der Autorin des Bestsellers »Der Salzpfad« (DuMont Welt - Menschen - Reisen). Broschiert. 2022. DUMONT REISEVERLAG. ISBN/EAN: 9783770169696. 16,95 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Raynor Winn; Christa Prummer-Lehmair (Übersetzung); Heide Horn (Übersetzung); Rita Seuß (Übersetzung): Überland (DuMont Welt - Menschen - Reisen). Broschiert. 2023. DUMONT REISEVERLAG. ISBN/EAN: 9783616031552. 17,95 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel