Eine Kindheit, eine unglückliche Kindheit, womöglich die Verarbeitung der eigenen Kindheit, das ist ein beliebtes literarisches Thema. Oft entstehen Texte, die keiner lesen mag, weil sie langweilig und larmoyant sind.
Die besten Texte sind daher oftmals die kargen, die von unnötigem Wortballast befreit sind und daher die Leserin oder den Leser umso mehr berühren oder treffen.
Unser Textkritiker Malte Bremer hat sich diesmal eine solche Miniatur angesehen, der er kleinere Schwächen bescheinigt, die jedoch leicht zu beheben sind.
Eine Kindheit
Haare sehr kurz – also Igelschnitt, und nicht die Spur eines Löckchens, keine Chance. Und Ohren, weit abstehend. Dazu dünne, braungebrannte Beine in kurzen Lederhosen. Der Spielplatz ist die Straße vorm Haus, immer mit zwei Dutzend krakeelender Kinder und Gummitwist. Fenster werden auf und zugeschlagen. Eltern, die laut ihre Zöglinge rufen, auch aus dem 10. Stock. Kinder kommen und gehen, die Straße gehört ihren Spielen, auch der Wäscheplatz und die vielen Verstecke zwischen dem blühenden Unkraut hinter den Garagen.
Sonntags dann Petticoatkleidchen und weiße Strümpfe. Wie behält man weiße Socken beim Spielen? Neben dem Ausflugslokal der Spielplatz mit Gartenzwergen. Das Kind ist allein und spricht mit ihnen. Wie heißt du und wer bin ich? Jeden Sonntag das Altbekannte aufs Neue. Die Langeweile sitzt mit am Tisch neben Torte und Limonade und heißt Familienausflug. Artig sein und sich nicht schmutzig machen und auf keinen Fall die Erwachsenen stören. Die Enttäuschung in den Augen der Eltern, wenn es wieder nicht geklappt hat, die Knie aufgeschlagen oder die Schuhe schlammig sind. Was die Leute denken! Denken sie so?
Die guten Sonntage, wenn Murle, die dicke, alte Katze, durch den Biergarten stromert. Manchmal steht sie unverhofft in den Träumen des Kindes als große Schwester. Sie kann sie nicht hinüberretten, in ihr richtiges Leben, auch wenn sie gern tauschen möchte. Wer bekommt schon große Geschwister? Im trüben Alltagsbrei ist kein Platz für Träume zwischen dem Streit der Erwachsenen.
Und plötzlich ein Unfall, der alles verändert: Das Bild der Mutter, wie sie mit verbogenen Beinen unter dem Auto liegt. Das Bild, das sie fortan verfolgt. Niemand hat es fotografiert.
Die Blumen im Krankenhaus sind immer schon verwelkt. Besuchsverbot für das Kind, das jetzt sonntags beim Pförtner abgegeben wird. Die Mutter bleibt in ihrer anderen Welt, die die Ärzte Koma nennen. Das Fremde, das sich steril anfühlt. Wie buchstabiert man Einsamkeit? Es steht in keinem Lesebuch. Die Zweiraumwohnung mit der Abwesenheit des Vaters schmerzt. Die Lehrer, die Nachbarn, die Spielgefährten – überall zu Gast und nirgends zu Hause sein. Das Mitleid der übervollen Teller würgt das Kind. Aus zu vielen Fenstern findet es keine Ausblicke. Verweise und schlechte Noten bleiben folgenlos.
Ein Jahr später. Die Mutter kommt nach Hause, sehr dünn, irgendwie durchsichtig. Das Kind kennt die Fremde nicht und nicht seine unverhoffte Freude, die es Normalität nennen wird. Die Familie als Platz, den die Leere füllt mit streitenden Eltern und einem trotzigem Kind dazwischen.
Zusammenfassende Bewertung
Eine ansprechend lakonische Miniatur mit kleineren Schwächen
Die jedoch sind – bis auf den Schluss – eigentlich mühelos zu beheben.
Die Kritik im Einzelnen
Dieser Satz fällt aus dem gesteckten Rahmen, da er nicht vollständig ist! Das wäre leicht zu ändern: Eltern rufen laut ihre Zöglinge, auch aus dem 10. Stock. zurück
Zwischen dem Unkraut – das funktioniert nicht, denn dann wären die Kinder zu sehen, da die Unkräuter nur um sie herum wüchsen, wohingegen sie im Unkraut besser verborgen wären! zurück
Das heißt einfach nur Petticoats – schließlich gibt keine Petticoathöschen für männliche Kinder! zurück
Aufs Neue steckt bereits in Jeden Sonntag das Altbekannte, kann also gestrichen werden. zurück
In meiner Erinnerung hieß der Satz »Was sollen denn die Leute denken!« zurück
Hier fehlt mir ein Zusammenhang, nämlich wie denken die Leute? Ich würde diesen Satz streichen, er fügt nichts Erhellendes hinzu. zurück
Sie kann sie – das holpert: Wer denn wen? Vorschlag: Sie kann Murle nicht hinüber retten in ihr richtiges Leben. zurück
Wer möchte gerne tauschen? Und was wofür? Ich verstehe diesen Satz inhaltlich nicht und empfehle deswegen eine ersatzlose Streichung! zurück
Gibt es auch klaren Brei? Eben! Weg mit dem Adjektiv! zurück
Da es keine unplötzlichen Unfälle gibt, ließe sich der Satz folgendermaßen bereinigen: Dann ein Unfall, der alles verändert. zurück
Diesen Absatz verstehe ich nicht, deshalb kann ich ihn auch nicht korrigieren! Wer kennt hier wen nicht: Das Kind nicht die Mutter oder die Mutter nicht das Kind? Erlebt das Kind eine unverhoffte Freude oder die Fremde? Wer nennt diese unverhoffte Freude Normalität? Wieso füllt die Leere einen Platz? zurück
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