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Ralf Rothmann: Im Frühling sterben – Auf der Suche nach dem Vater

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Was geschah in diesem Krieg? Was hat Vater so verändert, dass er nie darüber sprechen konnte. Astrid Braun stellt sich diese Frage und findet mögliche Antworten in den Notizen des Vaters.

Der Schriftsteller Ralf Rothmann kennt die Antwort nicht und sucht sie in der Fiktion. Astrid Braun hat sein Buch »Im Frühling sterben« gelesen. Sie erkennt Parallelen in der Suche nach dem nie Ausgesprochenen.

Mein Vater, Jahrgang 1917, war acht Jahre beim Militär. Sein Studium musste er 1938 unterbrechen, dann in den Krieg ziehen und ein Jahr in amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich verbringen. Er überlebte Stalingrad. Am 20. Januar 1943 wurde er schwer verwundet in einer der letzten Maschinen, die vom Flughafen Gumrak noch starten konnten, im Bombenschacht einer HE 111 ausgeflogen. Nach langer Genesung wurde er nochmals an die Westfront nach Frankreich abkommandiert und geriet in amerikanische Gefangenschaft. Als er nach Hause zu seiner Frau in den Hunsrück kam, lief meine Schwester, im Krieg 1944 geboren, schreiend vor dem zerlumpten Mann aus dem Zimmer.

Als Nachgeborene, Jahrgang 1958, habe ich keine Erinnerungen, die mit dem Krieg unmittelbar zu tun haben. Dachte ich. Im Alter von 76 Jahren hatte mein Vater eine schwere Krebsoperation. Vor der Operation sagte er, wenn er auch das noch überlebe, schreibe er alles auf. Er zeigte mir einen kleinen Taschenkalender, in den er in winziger Schrift wichtige Eintragungen gemacht hatte und den er durch alle Filzungen retten konnte. Geredet hat er bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel über diese Zeit, nicht mal mit seinem besten Freund Alois, der von Stalingrad in russische Gefangenschaft geriet und erst nach einigen Jahren wieder nach Hause kam. Alois war im Gegensatz zu ihm eher ein Schwadroneur. Mein Vater, in persönlichen Dingen absolut nicht redselig, kniff die Lippen zusammen, wenn ich bei einem der Familientreffen Alois herausforderte mit den klassischen pubertätskritischen Gedanken. Aber ich liebte Alois so wie ich meinen Vater liebte. Der schrieb nach gelungener Operation tatsächlich, ein Büchlein von 111 Seiten über Stalingrad. Viele Jahre – leider – habe ich es nicht richtig gelesen, mit meinem Leben beschäftigt. Nun ist er seit 17 Jahren tot, ich las sein Buch zum ersten Mal vollständig in der Silvesternacht 2014/2015.

Dieser Roman ist ein Spiegel zu meinen Gedanken

»I’d prefer not to« – Ralf Rothmann, der Bartleby des Deutschen Buchpreises

Mit seinem hochgelobten Werk wäre Ralf Rothmann natürlich ein Kandidat für den Deutschen Buchpreis gewesen. Doch wie die FAZ berichtet, wollte Rothmann nicht, dass der Suhrkamp Verlag »Im Frühling sterben« für den Preis einreicht. »Er möchte lieber nicht«, wird der Verlag in Anlehnung an die berühmte Melville-Erzählung des Schreibers Bartleby zitiert.

Oft wird kritisiert, dass der Deutsche Buchpreis mit seinen Short- und Longlists die vielen guten Bücher entwertet, die dort – aus welchen Gründen auch immer – nicht vertreten sind. Rothmann ist konsequent: Anstatt ebenfalls über diese Buchhitparade zu jammern, tritt er gar nicht erst an. (wt)

So fängt in der Regel keine Literaturkritik an, im Falle des neuen Romans von Ralf Rothmann »Im Frühling sterben« aber stehe ich dazu. Denn dieser Roman ist ein Spiegel zu meinen Gedanken und Empfindungen. Rothmann beginnt tatsächlich autobiografisch, erzählt von seinem realen Vater, der mit 17 nach seiner Lehre als Melker noch zur SS zwangsrekrutiert wird, später in den Ruhrpott zieht, um sich als Bergarbeiter zu Tode zu schuften. Der mit 61 Jahren früh stirbt, nicht viel von sich redet.

Nach dem autobiografischen Setting holt Rothmann aus und erzählt die mögliche Geschichte seines Vaters in diesem letzten Kriegsjahr an der Front in Ungarn. Er tut das mit dem großen Können eines versierten Erzählers, er erfindet, erfüllt mit der melancholischen Last des väterlichen Erbes. Die Grundthese: Traumata vererben sich, sie schreiben sich in den Kindern und Kindeskindern fort. Nachdem Rothmann die Geschichte erzählt hat, geht er im Epilog noch mal auf seine eigenen Erfahrungen zurück. Wie er an einem Wintertag das Grab seiner Eltern sucht, es nicht mehr findet.

Wäre ich ein großer Erzähler wie Rothmann es ist, hätte ich es ähnlich versucht. Ausgehend vom eigenen Erleben würde ich die Lücke schließen wollen, die zwischen der eigenen Biografie und dem Unausgesprochenen, Verborgenen, Verheimlichten des Vaters klafft. Ich würde mir eine erzählte Antwort geben wollen auf die Frage, warum mein Vater, ein unglaublich disziplinierter, in so vielen Dingen extrem begabter Mensch, der so viel in seinem Beruf als Lehrer gearbeitet hat, der Orgel spielte, Chöre leitete, die Stadtchronik schrieb, witzige Zeichnungen fertigte, ein Haus baute, den Garten pflegte, warum dieser Mann immer diese Aussetzer hatte, uns quälte mit nächtlichen Alkoholexzessen, mit Abstürzen, die aber nie in Arbeitsunfähigkeit mündeten und vor allem die Frage beantworten wollen, warum er bis zu seinem Lebensende nahezu jede Nacht im Schlaf geschrien hat.

Rothmann unterlegt seinem Vater ein Ereignis, das so nie stattgefunden hat, er lässt seinen Vater, im Roman Walter, den besten Freund Fiete erschießen, auf Befehl, weil dieser sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Das hat sich so nicht ereignet, aber es hätte sich so ereignen können. Rothmann, ein Meister von sinnträchtigen Metaphern, findet in dieser grausamen Tat die Metapher für den Verlust des Menschlichen, der nicht wieder gutzumachen ist, ein ganzes Leben lang nicht.

Seit meiner Kindheit bin ich auf der Suche nach einer Erklärung, was bei uns eigentlich los war, wo und vor allem warum es in unserer Familie eine Klappe gab, durch wir immer wieder durchfielen. Was war die Ursache dieser fundamentalen seelischen Verstörung, die das Leben meines Vaters prägte und uns alle mitriss? Im Stalingradbuch habe ich ein singuläres Ereignis gefunden, das aus dem sintflutartigen Grauen, das er beschreibt, herausragt. Es ist die Beschreibung der Hinrichtung des vom Vater so geliebten Pferdes Harro, um nicht zu verhungern. Auf einem Bauernhof aufgewachsen, war es meinem Vater, der eigentlich Tierarzt werden wollte, nie wieder möglich, unbefangen in den Stall zu gehen, auf einem Pferd ist er nie wieder geritten.

Fühlen bleibt die Sache des Lesers

Was die Erzählung von Rothmann so großartig macht, ist die Konzentration auf das Singuläre, auf das Beispielhafte. Das große Grauen kann niemand mehr erzählen, keiner würde ihm zuhören. Rothmann erzählt auch diese Geschichte sehr zurückhaltend, mit wenig Emotion, er folgt dem Erleben aus einer gewissen Distanz. Er erzählt so, dass das Fühlen die Sache des Lesers bleibt. Wie immer in Rothmanns Texten tauchen auch Wörter und Begriffe auf, die man schon sehr lange nicht mehr gehört bzw. vielleicht gar nicht gekannt hat. In »Milch und Kohle« waren es die Begriffe aus dem Bergbau. In großer sprachlicher Feinarbeit hat er die vergangenen Welten nachgebaut und vor allem »ihr Wesen« erschlossen.

In »Im Frühling sterben« heißt es zum Beispiel, dass das Feuer »gloste.« Man hätte auch schreiben können »glomm«, aber »gloste« hat neben mit gerundeten o auch noch ein s, das an glucksend erinnert, an das leichte Krispeln von Feuerresten. Rothmann zu lesen, das bedeutet, Atmosphäre zu atmen, zu schmecken, zu riechen. Aber nie im Überfluss zu schwelgen, nicht belästigt zu werden mit unangemessener Übertreibung, mit aufdringlicher Beschwörung.

Das, was Rothmann zu erzählen hat, ist vom Grundton her sentimental, er ist ein Erinnerungsfetischist, ein Bewahrer. In der Welt der Gruben hat er die geniale Metapher für sein Schreiben gefunden: Schürfen nach dem Verborgenen.

Im Roman schickt er Walter in Ungarn auf die Suche nach dessen Vater, der unweit seines eigenen Einsatzortes ums Leben gekommen ist. Diesen Vater umgibt eine leicht seltsame Aura des Unbekannten, weiß Walter als Sohn doch nicht, ob sein Vater ein kleiner Held gewesen ist oder nicht. Es ist diese Unentschiedenheit, die so glaubwürdig wirkt. Ob Held oder nicht, eine Entscheidung wird erzählerisch nicht gefällt. Denn die Leerstellen einer Biografie kann man nicht beliebig auffüllen.

Rothmann ist Lückenschließer statt Weltenbauer

Rothmann will weder Walter noch dessen Vater stilisieren, dazu ist der Ton des Erzählten zu verhalten, immer am Detail orientiert, an der Beobachtung. Nora Gomringer, die dieses Jahr den Bachmannpreis gewonnen hat, sagte hier im Interview mit Wolfgang Tischer, dass jeder Autor ein Schmerz-Depot anlege, aus dem er schöpfe. Im Roman »Im Frühling sterben« hat Rothmann sein Depot geöffnet und etwas sehr Intimes freigelegt, ohne in wehleidige Entblößung, Überhöhung oder gar Anklage zu fallen. Dass alle Rezensenten diesen Roman sehr loben, ist in gewisser Weise erstaunlich, erzählt er doch oberflächlich nichts Neues: 2. Weltkrieg geht immer….

Vielleicht neigen alle, die von dem Buch so berührt werden, in Demut den Kopf vor dieser zarten, vielschichtigen, schwebend gehaltenen Entblößung. Werden Romanautoren oft als Weltenbauer bezeichnet, so ist Rothmann in seinen Büchern eher ein Lückenschließer. Er transzendiert das Faktische in einen bewegenden, zarten seelischen Raum. Und hat sich eine hoffentlich entlastende Erklärung geschrieben für den Schmerz, den er vom Vater geerbt hat.

Astrid Braun

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1 Kommentar

  1. Die Sprache des Romans hat mich begeistert. Einiges hat mich gestört. Vielleicht letzteres nur weil ich mich in “Nur der Tod vergisst” um die gleiche Thematik bemüht habe. Warum werden in der Literatur der Nachkriegsgeneration alle Protagonisten zu den Waffen gezwungen oder waren nur Opfer des Regimes? Das war mein Vater nicht. Das war keiner meiner Onkel. Wo sind die Nazis nach 1945 geblieben? Gab es nach dem Krieg überhaupt Soldaten, die begeistert in den Krieg gezogen sind und trotzdem „gute Menschen“ waren? In unserer Literatur, wenn sie nicht politisch rechts steht, nicht. Und die Waffen-SS? Kaum ein Kommandeur hätte die eigene Stube den Kameraden erschießen lassen. Eines der Geheimnisse der Schlagkraft der Waffen-SS war die Kameradschaft, auch die Fürsorge der Vorgesetzten für ihre Leute, so seltsam sich dies anfühlen mag. Die Brutalität nach außen galt nicht nach innen. Wir haben es einfach nicht mehr nötig, diese Zeit mit der Brille der politischen Korrektness zu sehen, wir können und sollten uns so unvoreingenommen dieser Zeit stellen, wie dies Hannah Arendt in “Eichmann in Jerusalem” bereits vorexerziert hat. Und dann sind unsere Väter und Großväter eben nicht die Opfer, sondern die Mitläufer, Profiteure und Überzeugte des Systems. Und meines Erachtens hat nicht nur die Grausamkeit des Kriegs, sondern auch die Scham und die Verunsicherung diese Generation schweigen lassen. Vielleicht wird sich Herr Rothmann auch den wirklichen Tätern stellen. Ich würde mich auf die Lektüre dieses Romans sehr freuen.

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