»Lieber Leser! Je länger ich dir von der Geschichte unserer Familie erzähle, desto klarer wird mir, dass ich es eigentlich für mich selber tue.«
Auch so hätte die Geschichte der Selbstfindung von Lehrerin Anna beginnen können, denn die weiß fast nichts von ihrer Vergangenheit, vor allem nicht, wer ihr Vater war. Oder von den Marotten ihrer Mutter, warum diese zum Beispiel nur weiße Rosen duldet.
Als Anna von Verwandten erfährt, dass es ihrer alten Mutter nicht gut geht und sie nicht mehr zurechtkommt, fährt sie 24 Stunden mit dem Zug zu ihr in der Absicht, sie zu sich zu holen. Das spielt in den 80er-Jahren der heutigen UDSSR. Doch die Mutter stellt eine Bedingung: Sie kommt nur, wenn ein uralter, fürchterlich sperriger Tisch ebenfalls mitkommt.
Jetzt nimmt dieser Roman gewaltig Fahrt auf: Am Vorabend der Abreise legt die Mutter los und erzählt und erzählt und erzählt, entschuldigt sich wegen ihres Jahrzehnte langen Schweigens – und die Tochter begreift jetzt, warum der Tisch mit muss. Es blättern sich Schicksale auf, dass es einem die Sprache verschlägt: Von der »revolutionären« Zwangskolchosierung des weißrussischen Dorfes Polozk, wo Mutter und Tochter lebten, dem 1. und 2. Weltkrieg, der Nazi-Besetzung, den Partisanen:
Die Obrigkeit sagt, dass wir die »herrschende Klasse« sind, dabei sind wir die allerletzten Sklaven, die es auf der Welt gibt! Überleg einmal selber: Was haben sie mit dem eigenen Volk angestellt, dass diese dreimal verfluchten Okkupanten im Dorf mit Brot und Salz willkommen geheißen wurden?!
Bis hin zur Perestroika bzw. dem heutigen heutigen Moskau erstreckt sich der Zeitrahmen, immer wieder überraschend, teilweise grotesk, anrührend, brutal, aber auch ganz alltäglich.
Allerdings scheitert schon am nächsten Tag das Vorhaben, den Tisch im Zug mitzunehmen: Es wird schlichtweg verboten, zu sperrig! Und jetzt? Ganz pragmatisch machen sich Mutter und Tochter samt Tisch auf den 1.000 km langen Weg nach Gorkij (östlich von Moskau), zu Fuß, auf Pferdekarren, Milizfahrzeugen …
Mein lieber Sohn! Je länger ich dir von der Geschichte unserer Familie erzähle, desto klarer wird mir, dass ich es eigentlich für mich selber tue. Anders hätte ich mich kaum in dieser Menge unsinniger Kleinigkeiten und Details verloren, die vollkommen uninteressant sind.
So heißt es fast am Ende. Doch genau diese Menge unsinniger Kleinigkeiten und Details macht diesen Roman interessant und lesenswert.
Der Autor Ananij Kokurin lebt seit Jahren in Deutschland, hat den Roman jedoch auf Russisch geschrieben. Ins Deutsche übertragen wurde der Text von Christiane Auras.
Malte Bremer
Ananij Kokurin: Der Tisch: Roman. Gebundene Ausgabe. 2018. Osburg Verlag. ISBN/EAN: 9783955101534. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im BuchhandelAnanij Kokurin; Christiane Auras (Übersetzung): Der Tisch: Roman. Kindle Ausgabe. 2018. Osburg Verlag. 12,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
So toll… Was für ein Buch! Danke sehr