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John le Carré: Zur Lesung in London nach Stuttgart ins Kino

John le Carré - Lesung im Kino

Eine Lesung in London, die live in deutsche Kinos übertragen wird? Das klingt spannend. Wie viele Leute wird das interessieren, und wie viele Leute werden dafür ins Kino gehen? Immerhin liest John le Carré, der altehrwürdige Meister des Spionageromans. Wie läuft so eine Lesung in der Royal Festival Hall ab?

Also bin ich zu einer Lesung in London nach Stuttgart ins Kino gefahren, um das und noch viel mehr herauszufinden.

Nie gelesen und doch bekannt

John le Carré, geboren im Oktober 1931, ist 85 Jahre alt. Doch er werde schreiben, so lange er kann. Und er würde selbst dann weiter schreiben, wenn man seine Romane nicht mehr veröffentlichen würde, so le Carré. Doch diese Gefahr besteht nicht. Soeben erschien in England sein Roman »A Legacy of Spies«, der im Oktober unter dem Titel »Das Vermächtnis der Spione« auf Deutsch veröffentlicht wird.

Selbst wer nie einen Roman von le Carré gelesen hat, kennt ihre Titel, denn fast alle wurden verfilmt, zum Beispiel: Das Rußlandhaus, Die Libelle, »Dame, König, As, Spion«, Der Spion, der aus der Kälte kam.

Eine wiederkehrende Figur ist der Agent George Smiley, und auch im aktuellen Roman ist Smiley die Hauptfigur. »Ein Abend mit George Smiley« war daher auch der Titel, unter dem John le Carré den Roman am 7. September 2017 in London präsentierte. Opern und Konzerte aus London oder New York werden schon längst in deutsche Kinosäle übertragen, nun war es eine Lesung.

Doch anders als bei Musikübertragungen waren gute Englischkenntnisse erforderlich. Eine Live-Untertitelung des Abends gab es nicht. Und während die Veranstaltung in London um 19:45 Uhr begann, war es hierzulande schon eine Stunde später. In Stuttgart war die Lesung im Cinemaxx-Kino im Stadtteil Möhringen zu sehen, also nicht zentral. Es war zu vermuten, dass nicht allzu viele Leute zu dieser sehr speziellen Veranstaltung den Weg ins Kino finden würden – und so war es auch. Nach einer Pause blieben noch weniger übrig.

Und ganz am Ende saß ich allein im großen Kinosaal. Schade. Denn sehens- und vor allem hörenswert war dieser Abend durchaus. Man bekam interessante Einblicke ins Leben und das Schreiben des britischen Autors. Mit le Carré verhält es sich ähnlich wie mit Stephen King: Er wird oft als reiner Genre-Schriftsteller gesehen. Doch John le Carrés Bücher sind weitaus mehr. Und wenn auch der Stuttgarter Kinosaal fast leer ist, sieht die Royal Festival Hall mit ihren 2.500 Sitzen ausverkauft aus.

Auf der großen Bühne steht nur ein Rednerpult. Nach einer kurzen Begrüßung durch den Veranstalter, dem Southbank Centre, tritt John le Carré an das Pult. Seine Stimme wird über ein Nackenbügelmikrofon abgenommen, unten in einem Pultfach steht ein gefülltes Wasserglas, auf dem Pult selbst liegt das Redemanuskript, große Buchstaben mit großem Zeilenabstand auf losen DIN-A4-Blättern, die der Redner von links nach rechts umschichtet.

Bedacht und unaufgeregt

Der Abend beginnt mit einer gut einstündigen, abgelesenen Rede von John le Carré. Doch schnell wird klar, dass le Carré ein guter Redner ist und all das nicht wirklich abgelesen klingt. Er spricht bedacht und unaufgeregt, nur einmal setzt er seine Brille ab und ergänzt eine Anekdote, die nicht im Manuskript steht. Man hört ihm gerne zu, und es wird klar, dass dies mehr als eine Rede ist. John le Carré verbindet Stationen seines Lebens mit seiner Karriere als Schriftsteller und der Entstehung seiner Figuren. Immer wieder webt er Leseabschnitte aus »A Legacy of Spies« ein, sodass sich eine choreografierte Mischung aus Lesung und Leben ergibt.

John le Carré war selbst viele Jahre für den britischen Geheimdienst MI5 und MI6 tätig. Er berichtet, wie er 1958 im Innendienst begann und einen Kollegen hatte, der Spionagethriller schrieb. Zum ersten Mal in seinem Leben, so le Carré, konnte er einen Schriftsteller bei der Arbeit beobachten, denn der Kollege schrieb vornübergebeugt auch am Arbeitsplatz an seinen Werken. Le Carré war kurz nach dem 2. Weltkrieg im Alter von 17 Jahren in der Schweiz Thomas Mann begegnet, doch der schrieb da nicht an einem Roman. Inspiriert vom Kollegen am Schreibtisch nebenan, begann le Carré ebenfalls mit dem Schreiben. Der Kollege in seiner Schreibhaltung und mit seiner Brille wurde äußerlich zur Vorlage für die Figur des George Smiley.

Le Carré führt die Zuhörer durch die Jahre, über seine Zeit in Bonn, vom Bau bis hin zum Fall der Berliner Mauer. Stets zieht er Parallelen zu seiner Figur, und auch die Schauspieler werden analysiert, die Smiley verkörperten, darunter Alec Guinness. Hier streut le Carré Anekdoten ein, die bei ihm glücklicherweise nicht onkelhaft wirken.

Die 85 Jahre merkt man John le Carré nicht an, auch nicht im zweiten Teil des Abends, als auf der großen Bühne das Pult zwei gepolsterten, quadratischen Sesseln gewichen ist und sich der Moderator Jon Snow mit dem Autor unterhält. Die Zuschauer hatten die Möglichkeit, Fragen per Twitter und Facebook zu stellen, und Snow liest einige vor. Die Frage zu Trump darf nicht fehlen, und für le Carré ist das Erschreckende, dass schleichend der Faschismus wieder Fuß zu fassen scheint, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa wie in Polen und Ungarn. Der Brexit ist kein großes Thema, wenngleich le Carré sich schon in seiner Rede und durch seine Figur Smiley klar zu Europa bekannt hat.

Le Carré arbeitete nicht nur selbst für den britischen Geheimdienst, darunter mehrere Jahre in der Bonner Republik, auch sein Vater hatte ein bewegtes Leben, wenngleich auf ganz andere Art: Er war ein Verbrecher und Betrüger, und le Carré musste ihn mehrfach aus Gefängnissen abholen. Seine Tätigkeit als echter oder vermeintlicher Waffenhändler bescherte le Carrés Vater eine Stasi-Akte, da er sich bisweilen auch in der DDR aufhielt.

Bis heute schreibt John le Carré mit dem Bleistift, und seine Frau tippt anschließend die Manuskripte ab. Sie sei seine Testleserin, und man verstehe sich mittlerweile wortlos, wenn seine Frau gewisse Passagen noch nicht so gelungen findet.

Die Fragerunde war nicht ausufernd, das Publikum applaudierte stehend, und John le Carré ging von der Bühne. Knapp zwei Stunden Literatur im Kino waren vorbei. Kalter Krieg, DDR und Sowjetunion – ein klein wenig hatte man den Eindruck, als wäre es eine Reise in eine Zeit gewesen, in der Spionage scheinbar noch ein ehrbares Geschäft war.

Die Idee der Literaturübertragung im Kino war gut. Um ihr zu mehr Popularität zu verhelfen, wäre eine Autorin oder ein Autor mit breiterer Resonanz besser. Der Abend mit dem britischen Autor John le Carré war durchaus besonders, die Zielgruppe aber möglicherweise zu klein.

Wolfgang Tischer

John le Carré; Peter Torberg (Übersetzung): Das Vermächtnis der Spione: Roman (Ein George-Smiley-Roman, Band 9). Gebundene Ausgabe. 2017. Ullstein Hardcover. ISBN/EAN: 9783550050121. 10,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
John le Carré; Peter Torberg (Übersetzung): Das Vermächtnis der Spione: Ein Smiley-Roman. Taschenbuch. 2019. Ullstein Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783548290843. 12,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
John le Carré; Peter Torberg (Übersetzung): Das Vermächtnis der Spione: Ein Smiley-Roman. Kindle Ausgabe. 2017. Ullstein eBooks. 9,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

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