Foto von Ulrich Struve Zu Besuch bei Toten
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve

Im Totengarten: Portraits berühmter Gräber — das ist der viel versprechende Titel eines Bildbandes, der in der Deutschen Verlagsanstalt erschienen ist. Darin lädt Peter Andreas, ein Kölner Fotograf und Werbefachmann, in 180 Schwarz-Weiß-Aufnahmen zum Gang über weit verzweigte europäische Friedhöfe vom Cimetière Père-Lachaise in Paris über die venezianische Toteninsel San Michele bis zum Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Hans Bender, Meisteranthologist und Mit-Herausgeber der Zeitschrift Akzente, hat die Bildauswahl mit einer trefflichen Sammlung deutscher Grabgedichte versehen, die von Andreas Gryphius bis zu Wolf Biermann, von Novalis bis zu Paul Celan reicht.
     Im Totengarten ist sorgfältig aufgemacht und auf gutem Papier gedruckt, eine rundum gediegene Angelegenheit, bis hin zum schwarzen Heftfaden der Bindung. Das Buch liegt schwer in der Hand, es strahlt Ruhe aus und gestattet gedankenverlorenes Blättern ebenso wie das Nachsinnen über einzelne Verse, die zum Innehalten auffordern. In Georg Trakls »St. Peters-Friedhof« etwa heißt es: »Des Todes bleiche Blumen schauern / Auf Gräbern, die im Dunkeln trauern — / Doch diese Trauer hat kein Leid«. Wie sähe wohl leidlose Trauer aus? Und wie erlangte man sie, wenn es sie gäbe? Auch die Fotos der Grabstätten geben Anlass zur Spekulation, welcher Sinn ihnen innewohnen möchte. Warum lächelt der Historiker Leopold von Ranke mit solch gelassener Heiterkeit von seiner Grabplastik herab? Weil er hoch geehrt und allgemein geachtet starb? Weil ihn akademische Ranküne nun nicht mehr anzufechten vermag?
     In manchen seiner Fotografien hat Peter Andreas einen wundersamen Zauber eingefangen. Frank Wedekinds Grabstele, von einem nachgerade verhalten abspringenden Pegasus gekrönt, findet man auf einem solchen verwunschenen Bild wieder. Doch meist liegen die Grabsteine allzu direkt vor dem Auge der Kamera, geben, so will es scheinen, ihre wenigen Informationen leichtfertig preis: Namen, Lebensdaten, ein Motto vielleicht. Aber mehr auch nicht. Denn in diesem papiernen Totengarten fehlt jegliche Auskunft über historische Zusammenhänge der Grabgestaltung, die Bedeutung allegorischer Figuren oder architektonischer Besonderheiten. Man fragt vergebens, wie und wann Gabriele D'Annunzio zu seiner monumentalen Grabstätte kam, die so wirkt, als böten auf ihr antike Götter und Titanen einander Brandopfer dar. Und wieso strebt ausgerechnet aus Jules Vernes Grab der Tote augenscheinlich voll Auferstehungshoffnung dem Jüngsten Gericht entgegen? Von Erläuterungen unbehelligt, können sich die präsentierten Grabmale dem Leser kaum weiter erschließen. Die Bilder bleiben im säkularen Wallfahrtsfahrtsmodus des Medienzeitalters, der Pilgerschaft zu Berühmtheiten, stecken.
     Während Benders Anthologie chronologisch angeordnet ist und das Textkorpus klug gewählt, sind die Auswahlkriterien und Ordnungsprinzipien der Fotografien nicht zu erkennen. Gelegentlich versteigt sich Andreas zu einer narrativen Anordnung, die eher peinlich ist (Doppelseite mit Hegel, Marx und Rudi Dutschke); meist wirkt sie nicht nur sprunghaft, sondern schlicht beliebig. Noch ärgerlicher ist, dass die Lyrikanthologie und der Photoband unverbunden nebeneinander stehen, dass die Anthologie den Bildern aufgesetzt scheint. Oder ist es umgekehrt? Selbst da, wo sich Gedichte auf bestimmte Gräber beziehen, sucht man vergebens nach fotografischen Portraits derselben, zum Beispiel bei Pirandello, Huch, Camus, Hölty und Gellert. Der vielbeschworene Dialog von Bild und Text wird sich so kaum einstellen.
     Schon der Untertitel des Buches erweist sich im Nachhinein als Fehlanzeige: nicht »Portraits berühmter Gräber« werden geboten, sondern allenfalls »Gräber berühmter Leute«. Ohne die Grundlage dieses Ruhms zu ergründen oder zu hinterfragen, verstärkt der Bildband letztlich nur den verbreiteten Kult einer »Berühmtheit«, die zu oft mit Bedeutung verwechselt wird. Doch dazu hat Gryphius — mutatis mutandis — bereits alles Nötige gesagt: »Starrt ob dem schönen Marmor nicht: / Sein Schmuck und Grabschrift können trügen«.
     Wen nach Auskunft über die Friedhöfe wenigstens einer Stadt verlangt, der ist besser beraten, Peter Stephans Des Lebens Dernier Cri zurate zu ziehen, das als »Lauf- und Lesebuch über Pariser Friedhöfe« konzipiert ist. Der Autor des handlichen Taschenbuchs aus dem Leipziger Reclam-Verlag hat sich ausgiebig am Montparnasse und Montmartre umgetan, ist oft auf dem Père-Lachaise gewesen. Doch auch die abseitigen Gottesäcker in der Vorstadt kommen nicht zu kurz: Joseph Roths Grab veranlasst unseren Cicerone, den mit 103 Hektar riesenhaften Armenfriedhof Thiais aufzusuchen, Ödön von Horváths schlichtes Grab lockt ihn nach St. Ouen. Zum Abschluss fehlt auch ein Besuch auf dem Hundefriedhof von Asnière nicht, wo der rumfässchenbewehrte Bernhardiner Barry liegt, der vierzig Menschen das Leben rettete — und vom einundvierzigsten erschossen wurde, weil der ihn für einen Wolf hielt.
     Des Lebens Dernier Cri ist die Anekdoten- und Faktensammlung eines routinierten Journalisten, der im leichten Plauderton des Causeurs Auskunft gibt über »die Zerwürfnisse, die Liebschaften und Krankheiten« der Verblichenen, aber auch über ihre großen und kleinen Leistungen im Leben. Stephans Kompendium aus Angelesenem und Selbsterlebtem gleicht einem langen Spaziergang über die Friedhöfe der Stadt an der Seite eines Führers, der zu unterhalten versteht.
     Von den Gräbern, die liebevoll oder ironisch, amüsiert oder respektvoll beschrieben werden, schweift der erzählende Reporter ab zu den Biografien der Toten; er sinniert über Torheiten wie Erhabenes gleichermaßen, wobei ihm allerdings die Torheiten etwas mehr zu liegen scheinen. Genüsslich, nicht ohne sympathische Selbstironie, malt er eine Caféhausbegegnung mit Sartre aus, bei der sich der Autor und seine Begleiter aufführten »wie eine Jungmädchenklasse, die in der Eisdiele Michael Jackson am Flipper entdeckt hat«. Aber auch mit weniger illustren Geistern macht Stephan seine Leserinnen und Leser bekannt. So delektiert er mit einem Exkurs über Charles Pigeon (1838-1915), dem Erfinder der nicht-explosiven Lampe, eine Neuerung, die 1889 auf der Weltausstellung nun doch vom Eiffelturm ein wenig überschattet wurde. Die technologische Glanzleistung kommt auf Pigeons Grabmal symbolisch noch einmal zu Ehren: Der Ingenieur ließ sich mitsamt der werten Gattin im wuchtigen neugotischen Ehebett abkonterfeien. Durch die neue Erfindung vor unliebsamen Unterbrechungen gesichert, ließen sich nun »der Angetrauten beschaulich die Leviten oder anderes Druckwerk lesen«.
     Mit 41 Fotografien von Joachim Dörr und Peter Stephan sowie übersichtlichen Lageplänen und Adressen der einzelnen Friedhöfe ausgestattet, kann und soll Des Lebens Dernier Cri herkömmliche Stadtführer nicht ersetzen. Eine sinnvolle und vergnügliche Ergänzung, ein bestens geeigneter Leitfaden zum Kursus »Paris für Fortgeschrittene« ist das Buch allemal. Eine gelungene Auswertung des Zettelkastens, für die man Stephan beim nächsten Paris-Besuch Dank wissen wird.

Ulrich Struve

Peter Andreas/Hans Bender: Im Totengarten: Portraits berühmter Gräber. Stuttgart: DVA, 1996. Geb., 160 Seiten. 78 DM/39,88 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-421-05050-3.

Peter Stephan: Des Lebens Dernier Cri. Ein Lauf- und Lesebuch über Pariser Friedhöfe. Leipzig: Reclam, 1996. Pb., 41 Abbuldungen, 236 Seiten. 20 DM/10,23 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-379-01573-3.


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