Foto von Ulrich Struve Leise Töne
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve

Um sich von den Strapazen der Nachwendezeit zu erholen und ohne Ablenkung durch bundesdeutsche Querelen schreiben zu können, verbrachte Reiner Kunze im Hebst 1995 einige Wochen auf einer Wildfarm in der Namibischen Halbwüste südlich von Windhoek. Sein einfühlsamer Bericht über diesen Besuch ist bei S. Fischer unter dem Titel Steine und Lieder erschienen. Darin stellt Kunze das Land, seine Gastgeber Erika und Anton von Wietersheim sowie die Nama und Damara, die auf der »Gras Farm« leben und arbeiten, in Notizen und Fotos vor.
     Als Namibia noch Deutsch-Südwest-Afrika hieß, waren Nama und Damara unter Europäern als Hottentotten und Klippkaffern bekannt. Das ist eines der wenigen im Text erwähnten Details der kolonialen Vorgeschichte Namibias. Doch verschweigt Kunze diese keineswegs; ebenso wenig wie die Existenz jener Ewiggestrigen unter den deutschstämmigen Siedlern, die beim Tod von Rudolf Hess große Traueranzeigen schalteten. Dennoch will sich Kunze bewusst nicht von der Vergangenheit bannen lassen. Er richtet den Blick auf die Zukunft, auf jenes Namibia aller Bevölkerungsgruppen, das seit der Unabhängigkeit verstärkt im Entstehen begriffen ist. Dessen Zeichen sucht Kunze nicht primär im politischen Leben des Landes, sondern im privaten auf, beispielhaft auf der »Gras Farm«, im offenen und respektvollen Umgang der Menschen miteinander. Privates Engagement, das klare politische Dimensionen hat, und die dafür notwendige moralische Gradlinigkeit zeigen sich etwa in der 1978, schon vor dem Ende der Apartheit, gegründeten Dorfschule von »Gras«, in der weiße und schwarze Kinder gemeinsam unterrichtet werden.
     Bald nach Kunzes Ankunft setzen sich der Zauber der fremden Landschaft und Tierwelt, die Lebensumstände und Traditionen der auf der Farm ansässigen Menschen gegen den Vorsatz durch, an mitgebrachten Texten arbeiten zu wollen. Die Sorgen und Freuden der Farmbewohner, die Führung Orsaks, der sein Haus und drei Quadratmeter maschendrahtverhauenen »Garten« mit sichtlichem Stolz vorzeigt, die Beharrlichkeit der Menschen inmitten der kargen sonnengebleichten Steinwüste nehmen den Besucher sanft gefangen. Gottesdienst und Essenkochen auf dem dreibeinigen Topf, Wasserleitungsreparatur und wöchentlicher Einkauf im Laden des Dorfes, Schule und Konzert sind Teil eines Gemeinschaftslebens, das Kunze fasziniert miterlebt und behutsam dokumentiert, auch wenn sich längst nicht alles dem fremden Blick erschließt.
     Kunze erweist sich in Steine und Lieder erneut als Meister der leisen Töne, als ein Beobachter, der seinem Gegenüber unbegrenzt Aufmerksamkeit schenkt und offen dafür ist, sich selber in der Begegnung mit dem Anderen verändern zu lassen. Zwischen den Zeilen lässt Kunze manches mitschwingen, das die Gemeinschaft auf der »Gras Farm« als Vor- und Gegenbild für Deutschland nach der Wende erscheinen lässt. Als Erika von Wietersheim die Kinder der Dorfschule befragt, welche Menschen ihnen am liebsten seien, schält sich aus den Antworten, so berichtet Kunze, recht bald folgende Werteskala heraus: »1. Großzügigkeit. 2. Freundlichkeit. 3. Heiterkeit.« Zumindestens Großzügigkeit kann man den Deutschen, eingedenk der überwältigenden Reaktionen auf das Oderhochwasser oder der Spenden für das Kosovo, durchaus bescheinigen. Wie es um Freundlichkeit und Heiterkeit bestellt ist, steht im rauer gewordenen deutschen Alltag oft auf einem anderen Blatt.

 

Ulrich Struve

Reiner Kunze: Steine und Lieder: Namibische Notizen und Fotos. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1996. 110 Seiten. 68,00 DM/34,77 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN: 3-10-042016-0.


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