
Mit einem Roman über das Scheitern von Erzählmustern hat Dorothee Elmiger den Deutschen Buchpreis 2025 gewonnen. Am Montagabend, dem 13. Oktober 2025, wurde die Schweizer Autorin für »Die Holländerinnen« ausgezeichnet – ein Roman, der das Erzählen selbst befragt und dabei in die Abgründe unserer Gegenwart blickt.
Der Abend des 13. Oktobers 2025 im Kaisersaal des Frankfurter Römers hatte etwas von jenem Moment, wenn man im Dschungel nicht mehr weiß, welcher Pfad der richtige ist. Sechs Romane standen zur Wahl – bis Moderatorin Julia Westlake verkündete: Dorothee Elmiger gewinnt mit »Die Holländerinnen« (Hanser) den Deutschen Buchpreis 2025.
Zwischen Dschungel und Sprachdickicht
»Dieser Roman ist ein Ereignis«, begründete die Jury ihre Wahl. Eine Schriftstellerin berichtet darin von einer Reise in den südamerikanischen Urwald mit einer Theatergruppe auf den Spuren zweier Holländerinnen, die dort verschwunden sind. Je tiefer sich die Gruppe im Dickicht verliert, desto mehr zieht Elmiger die Leser:innen in einen Sog aus Angst und Erkenntnis.
Der Roman nimmt sich eines realen Falls an: 2014 verschwanden zwei junge niederländische Touristinnen im Dschungel von Panama. Die Suchaktion wurde zur größten in der Geschichte des Landes. Elmiger macht daraus keine True-Crime-Erzählung, sondern eine literarische Expedition ins Unheimliche.
Wenn Erzählungen an sich selbst scheitern
Besonders ist die Erzählweise: Das ganze Buch ist im Konjunktiv geschrieben – in der indirekten Rede, in der Kolportage, wie Elmiger selbst sagt. Eine Autorin berichtet in einer Vorlesung, wie sie einen manischen Theaterregisseur in den Dschungel begleitete. Dieser will das Verschwinden der beiden Frauen künstlerisch rekonstruieren – ein Vorhaben, das sich immer tiefer in die Dunkelheit verläuft.
Kaschnitz trifft Tocotronic
Die frisch gekürte Preisträgerin dankte ihrem Lektor Martin Kordić, mit dem sie seit 15 Jahren zusammenarbeitet, dem Verlag, der Korrektorin – und den anderen Shortlist-Kandidaten: »Es war ein großes Vergnügen, mit euren Büchern unterwegs zu sein.«
Dann wurde es poetisch und politisch zugleich. Am Ende ihrer Rede zitierte Dorothee Elmiger einen Satz von Marie Luise Kaschnitz, den sie in der Berliner U-Bahn gelesen hat: »Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit« – und eine Zeile aus einem Tocotronic-Song, in der es heißt, »dass das Unglück überall zurückgeschlagen werden muss«. Eine Kombination, die zeigt, wo Elmigers literarisches Programm verortet ist: zwischen Reflexion und Widerstand.
Die Frau, die fast aufhörte zu schreiben
Dass »Die Holländerinnen« überhaupt erschienen ist, grenzt an ein Wunder. Elmiger habe beim Schreiben des Buches fast aufgegeben, sagte sie in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung. Drei, vier Jahre lang habe sie alles immer wieder verworfen. »Es wurde immer schlimmer, bis ich dachte: Ich muss mich vom Schreiben verabschieden.« Dann aber löste sich die Handbremse, und es folgte, wie sie sagt, ein »beinahe fiebriges Schreiben«.
Das Resultat hat eine enorme Dichte, auch wenn der Roman selbst nur knapp 160 Seiten hat. Der Text erzählt von Menschen, die in ihr »dunkelstes Gegenteil« verfallen. Indirekt ist dabei nicht nur Elmigers Sprache, sondern auch ihr Blick auf unsere Gegenwart, die Schritt für Schritt in Selbstüberhebung versinkt.
Zärtlichkeit gegen die Gewalt
Jurysprecherin Laura de Weck hatte bereits bei der Bekanntgabe der Shortlist betont, dass alle sechs Romane das Thema Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Zugleich, so de Weck, weigerten sich die Autoren, Gewalt als Effekt oder Sensation zu benutzen. Stattdessen schrieben sie dagegen an – »mit Zärtlichkeit, Behutsamkeit und Intelligenz«.
Genau das leistet Elmigers Roman. Er ist anspruchsvoll, keine Frage. Doch wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt – mit einer literarischen Erfahrung, die sich dem schnellen Konsum verweigert und das Nachdenken über das Erzählen selbst verlangt.
Elmiger setzte sich gegen fünf weitere Autorinnen und Autoren durch: Kaleb Erdmann mit »Die Ausweichschule«, Jehona Kicaj mit »ë«, Thomas Melle mit »Haus zur Sonne«, Fiona Sironic mit »Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft« und Christine Wunnicke mit »Wachs«.
Folgt noch der Schweizer Buchpreis?
Dorothee Elmiger ist die zweite Schweizer Autorin, die den Deutschen Buchpreis gewinnt – nach Melinda Nadj Abonji 2010. Und wie Abonji hat auch Elmiger die Chance auf einen Doppelerfolg. Für »Die Holländerinnen« ist sie 2025 auch auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Der Preis wird am 16. November im Rahmen des Literaturfestivals BuchBasel verliehen. Sollte sie auch dort gewinnen, wäre sie die zweite Autorin, der es gelingt, beide großen deutschsprachigen Buchpreise in einem Jahr zu gewinnen – 2010 schaffte es Melinda Nadj Abonji mit »Tauben fliegen auf«.
Verschlungene Lesepfade
Während der Frankfurter Buchmesse wird Elmiger auf zahlreichen Podien über ihr Buch sprechen. Wer »Die Holländerinnen« liest, sollte sich auf verschlungene Pfade einstellen: Manchmal führt der Weg zur Erkenntnis durch das Dickicht der Sprache – und das gilt auch für schmale Bücher.
Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen: Roman Deutscher Buchpreis 2025 (Shortlist). Gebundene Ausgabe. 2025. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG ISBN/EAN: 9783446282988 23,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen: Roman. Kindle Ausgabe. 2025. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG 16,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
229 Titel zum Deutschen Buchpreis eingericht

Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit 2005 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Der oder die Preisträger:in erhält 25.000 Euro, die fünf weiteren Finalist:innen je 2.500 Euro.
Die Jury sichtete 229 Titel, die zwischen Oktober 2024 und September 2025 erschienen sind. Aus ihnen entstand eine Longlist mit 20 Büchern, dann die Shortlist mit sechs Titeln.
Hauptförderer ist die Deutsche Bank Stiftung, Partner sind die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main. Der Preis gilt längst als die wirtschaftlich bedeutendste deutschsprachige Literaturauszeichnung.