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Buchmesseimpressionen 2024 von Barbara Fellgiebel: Nur weg von Goethes Sofa?

Bekommt viele Mikros hingehalten: Buchpreisgewinnerin Martina Hefter
Bekommt jetzt viele Mikros hingehalten: Buchpreisgewinnerin Martina Hefter

Die Frankfurter Buchmesse 2024 ist vorbei. Wie immer gibt es im Nachgang und im literaturcafe.de Barbara Fellgiebels Messeimpressionen der anderen Art zu lesen – respektlos, subjektiv, frech, KI-frei und detailreich. Sollten Sie diesen Artikel nur überfliegen wollen, verzichten Sie lieber ganz, dann lohnt es sich nicht.

FBM24 is Read!ng

Read. Reflect. Relate. So lautete das Motto der diesjährigen Buchmesse. Der 76sten. Geht’s noch? Ich bin wirklich für Internationalität und alles andere als Nationalistin, aber vehemente Verteidigerin der deutschen Sprache. Könnte man vielleicht nächstes Mal einen deutschen Slogan mit englischem Untertitel haben? Lesefans aus aller Welt feierten auf der Frankfurter Buchmesse wieder neue und neu aufgelegte Bücher und deren Autor*innen. Diesjähriger Ehrengast: Italien. Eine europäische Kulturnation, in der sich kreative Tradition und Aufbruchsstimmung vereinen. So lautete die vielversprechende Ankündigung. Verheißungsvolle Worte, die eigentlich nur Erwartungen schürten, die nicht eingehalten wurden. Aber den Slogan haben sie (natürlich!) italienisch formuliert: radicato nel futuro – verwurzelt in der Zukunft. Wie das nun gehen soll?

Mir wird bewusst, wie aussterbend meine Art der subjektiven, persönlichen Berichterstattung ist. Gerade darum werde ich sie weiter pflegen. Die vielen glatten, seelenlosen Fakten und Informationen können andere, zunehmend KI benutzende, gehetzte Kollegen und Kolleginnen veröffentlichen. Knopfdruck und Triggerwort genügen.

Montag, 14. Oktober 2024

Meine Buchmesse fängt offiziell mit der Verleihung des dbp, des Deutschen Buchpreises an.

Seit 20 Jahren zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Dieser 20. Geburtstag wird mit liebevollen Überraschungstüten für die geladenen Teilnehmer*innen gewürdigt. Darin finden sich Fragespiele, Adventskalender, Postkarten, die alle die 20 x 20 Bücher, zum Thema haben, die es in den letzten 20 Jahren auf die jeweiligen Longlists geschafft haben.

Die Stunde vor Beginn der Preisverleihung ist immer am schönsten. Da ergeben sich freudige Wiedersehen, spekulative Tipps und interessante Beobachtungen. Wie zum Beispiel der Auftritt von Clemens Meyer, dessen siegesgewisses Gebaren wie Sodbrennen in mir aufstößt.

Wer sich seines Sieges so sicher ist, kann wohl nicht mit der Schmach und nur 2.500 Euro statt des erhofften und einkalkulierten 25.000 Euro Preisgeldes nach Hause gehen, sondern muss im Nachgang die Jurymitglieder als inkompetent beschimpfen, obendrein in unflätigeren Worten.

Clemens Meyer (rechts) lässt sich siegesgewiss von (nur männlichen) Fotografen ablichten
Clemens Meyer (rechts) lässt sich siegesgewiss von (nur männlichen) Fotografen ablichten

Eigentlich clever. Denn dieser unangemessene Ausbruch beschert ihm bedeutend mehr Publizität als der Gewinn des Preises es getan hätte.

Die alljährlich wechselnde Jury hat stundenlang mit sich gerungen, wie die eloquente Jurysprecherin Natascha Freundel (rbb) verriet. Man versteht im Gespräch mit Buchhändlern auch warum:

Weil als Kriterium für den besten Roman nicht nur die Qualität des Werkes berücksichtigt wird, sondern die saleability, also die Verkaufbarkeit eine zunehmend entscheidende Rolle spielt. Da fliegt ein 1.000-Seiten-Roman, der 36 Euro kostet zugunsten eines preiswerteren Leichtergewichts, das man in einer Nacht locker durchliest, schon mal aus dem Rennen. Dieser Jury möchte ich nicht angehört haben.

Damit will ich in keiner Weise sagen, dass die diesjährige Preisträgerin bzw. ihr Roman nicht preiswürdig seien.

Klett-Cotta-Verleger und frisch genannte dbp-Siegerin in ansteckender Freude
Klett-Cotta-Verleger und frisch genannte dbp-Siegerin in ansteckender Freude

Für ihren autofiktionalen Roman »Hey guten Morgen, wie geht es dir?« (Klett-Cotta) erhielt in diesem Jahr die Leipziger Performancekünstlerin und Choreografin Martina Hefter den Deutschen Buchpreis.

In der Begründung der Jury hieß es: »Die Protagonistin in Martina Hefters ›Hey guten Morgen, wie geht es dir?‹ ist Mitte 50, führt ein prekäres Leben als Performance-Künstlerin in Leipzig und pflegt ihren MS-kranken Mann. In schlaflosen Nächten chattet sie mit einem nigerianischen Liebesschwindler, der es auf ihr Geld abgesehen hat. Es stellt sich die Frage, wer hier wen ausbeutet – und was passiert, wenn wider Erwarten die Grenzen zwischen digitalem Spiel und realer Zuneigung verschwimmen. Auf faszinierende Weise verbindet der Roman zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung. Von all dem erzählt Martina Hefter in ihrem klug choreografierten Roman, der eine ganz eigene Anziehungskraft ausübt.«

Herzerwärmend, wie sich die überraschte Preisträgerin ungläubig nach allen Seiten umdreht und in ihrer ehrlichen Freude ihr Umfeld und Mitkandidaten ansteckt. Bis auf Clemens Meyer.

Julia Westlake, die neue Moderatorin der Buchpreisverleihung
Julia Westlake, die neue Moderatorin der Buchpreisverleihung

Julia Westlake, einigen aus der jahrelangen TV-Sendung »Ich trage einen grossen Namen« bekannt, ist erstmalig Moderatorin und macht ihre Sache gut. Ihre Vorgängerin Cecile Schortmann sitzt entspannt im Publikum und freut sich, »nur« als Gast dabei sein zu können. Bei ihrem Gespräch mit Tanja Postpischil, der Pressechefin des Suhrkamp Verlages hätte ich gern Mäuschen gespielt, denn die Zukunft des in die roten Zahlen abgedrifteten, ehemals wichtigsten deutschen Verlags der Neuzeit ist ein an diesem Abend viel diskutiertes Thema.

Tanja Postpischil von Suhrkamp (links)und Cecile Schortmann
Tanja Postpischil von Suhrkamp (links)und Cecile Schortmann

Bei dem in diesem Jahr italienisch geprägten leckeren Büffet lerne ich begeisterte junge Menschen kennen, die erstmalig bei einer solchen Veranstaltung dabei sind, da sie ehrenamtlich im Zukunftsparlament des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels sitzen.

Otto Ritter und Carina Fricke vom Zukunftsparlament

Ich lustwandele durch die Menge der mampfenden, lebhaft diskutierenden Gäste, freue mich, dabei sein zu können. Das empfindet der andere männliche »Verlierer« Markus Thielemann genauso.

Ich denke noch viel über die Kriterien dieses Preises nach. Sollte man in erster Linie einen vielversprechenden Newcomer prämieren, so wie damals Arno Geiger, dem der Preis ein Jahr Schreiben in finanzieller Sicherheit gewährte?

Mir wird bewusst, wie privilegiert ich in meiner Unabhängigkeit bin. Ich darf sagen und schreiben, was ich denke, ohne um meinen Job bangen zu müssen. Im Gegenteil, von mir wird Unangepasstheit und Gegen-den-Strom-Schwimmen erwartet. Also begebe ich mich mit wachen Sinnen auf die Jagd nach ALFA-Effekten, die heute auch gern Wow-Effekte genannt werden.

Die Autorin des Beitrags mit einem Fan
Die Autorin des Beitrags mit einem Fan

Meine seit Jahren zunehmend bunte Erscheinung beschert mir zahllose freudige Kommentare, Lächler und nette Gespräche. Am Ende der Messe outet sich sogar eine literaturcafe.de-Besucherin, die mich an meinem bunten Hut erkennt. Wohltuende Lichtblicke in sonst so grauen, ernsten, beängstigenden Zeiten.

Dienstag, 15. Oktober 2024

Auf dem Weg zur Pressekonferenz der Buchmesse fragt mich eine Asiatin nach dem Weg zur Universität. Wir legen ein Stück Weg gemeinsam zurück, und ich erfahre, dass sie koreanische Kultursoziologin ist. Am Freitag entdecke ich sie überraschenderweise im Publikum meiner Lesung in Offenbach. Das ist die erste von vielen unbeabsichtigten Minibegegnungen, die so typisch für Frankfurt zu Buchmessezeiten sind.

Die Pressekonferenz findet wieder im Frankfurt-Pavillon statt, dem »Beispiel für demokratische Architektur«, inzwischen preisgekrönter Ersatz für das Lesezelt. Nein, jetzt nicht nostalgisch werden. Alles hat seine Zeit. Als Keynote-Sprecherin (nein, dieses Jahr wird keine »Kino-Sprecherin« angekündigt) hat Buchmessenchef Jürgen Boos die britisch-türkische Autorin Elif Shafak eingeladen. Warum nicht Roberto Saviano? Das wäre eine Ansage gewesen. Die eingeladene Autorin meint, für wirkliches Wissen müssten wir einen langsameren Gang einlegen. Nicht für Information, aber für Wissen. Sie spricht von Öko-Feminismus und nennt beeindruckende Beispiele von Frauenprojekten, die durch Baumpflanzungen helfen, das Ökosystem zu verbessern.

Ihr Diskurs über die Notwendigkeit von Herstory statt History ist für viele ein Augenöffner. Also die Wichtigkeit von Frauengeschichte(n) statt Männergeschichte(n). Zuletzt warnt sie davor, wie aus Angst Apathie und schließlich Gleichgültigkeit werden könne.

Jürgen Boos trifft ihre Rede mitten ins Herz, und zu Tränen gerührt sieht er sich nicht in der Lage, ihr die Fragen zu stellen, die er wollte. Das nennt Buchmessensprecher Torsten Casimir das schönste Interview das in den letzten Jahren ausgefallen ist.

Auf zum schlecht vorbereiteten Presserundgang durch den Gastpavillon:

Im Gastland-Pavillon von Italien
Im Gastland-Pavillon von Italien

Ein dunkler leerer leiser Platz umrahmt von weißen Styroporsäulen erwartet uns. So dunkel, dass prompt die ersten Stolperfaststürze die ziemlich unnötigen Stufen hinunter passieren. Welche italienische Piazza ist von Treppenstufen umrahmt? Prompt ist es vielleicht der schnellen Berichterstattung meiner Online-Kollegen zu verdanken, dass am nächsten Tag hinreißend schöne live Gitarrenmusik die Besucher empfängt, angeregtes Piazza-Gewusel geschieht und man einen ganz anderen, sehr viel positiveren Italieneindruck erhält.

Der spärlich bestückte Infostand Italienes drückt eine gewisse Presseverachtung aus
Der spärlich bestückte Infostand Italiens drückt eine gewisse Presseverachtung aus

Der spärlich bestückte Infostand vor dem Pavillon drückt eine gewisse Verachtung aus. Italien braucht sich nicht anzubiedern. Andere Gastländer brachten »everything but the kitchen sink« mit, um sich so facettenreich wie möglich zu präsentieren. Das hat Italien nicht nötig. Die Touris kommen sowieso ins Sehnsuchtsland Nummer Eins.

Auf zum Pressezentrum, das in diesem Jahr wie in den ganz frühen Jahren der Messe wieder im Torhaus liegt. Am A der Welt bzw. der Messe. Aber ein Upgrade, wie mir eine Mitarbeiterin versichert. Nach kilometerlangem Marsch, Treppen rauf und runter kommt man schließlich nach dem S-Bahn Ausgang zu besagtem Torhaus. Und tatsächlich, hier ist ein großzügig ausgestattetes Pressezentrum mit allem was das Journalistenherz begehrt, vielen Verbesserungen und viel freundlichem Personal.

Ein herrliches Vergnügen wartet in Goethes Escape-Room in der Frankfurter Innenstadt
Ein herrliches Vergnügen wartet in Goethes Escape-Room in der Frankfurter Innenstadt

Vor der Eröffnungsfeier bleibt genügend Zeit für einen Abstecher zur Paulskirche, wo der erste Buchmessen Escaperoom zum Thema Goethes Italienischer Reise aufgebaut ist. Ich war noch nie in einem Escaperoom und gehe erwartungslos hinein. Mein Begleiter befürchtet, es könne klaustrophobisch und beängstigend werden. Als die nette Assistentin versichert, er dürfe sich auf Goethes Sofa setzen, ist er bereit, mit hineinzugehen. Wir haben 20 Minuten, um Zahlen zu finden, Zahlen, mit denen wir Schlösser aufschließen sollen. Nach anfänglicher Ratlosigkeit finden wir Puzzlestücke und Zahlen. Als mein Begleiter im Begriff ist, den Schreibtisch zu zerlegen, stürzt die Assistentin herein und sagt, was wir dürfen und was nicht. Mit gewisser Hilfe gelingt es uns, die Fragen zu beantworten und die Schatztruhen zu öffnen. Ein herrliches Vergnügen.

Eröffnungsfeier: Claudia Roth hält eine flammende Rede für den Erhalt von 3sat und gegen die Kürzung von Kulturetats
Eröffnungsfeier: Claudia Roth hält eine flammende Rede für den Erhalt von 3sat und gegen die Kürzung von Kulturetats

Bei früheren Eröffnungsfeiern war kaum eine Chance, einen Platz zu ergattern, minutiöse Leibesvisitationen verzögerten den Einlass und gaben allen Anwesenden das Gefühl von großer Wichtigkeit. Nicht diesmal. Fast freie Sitzwahl. Viele leere Plätze. Es kommen ja auch keine Staatsoberhäupter. Weder Scholz noch Meloni. Und royaler Glanz ist auch nicht zu erwarten.

Nur Kulturstaatsministerin Claudia Roth und ihr italienischer Counterpart Alessandro Giuli.

Shooting star Mona Ameziane moderiert mit Charme und ist gut vorbereitet. Doch der Veranstaltung fehlt es an Esprit. Weder gibt es italienische Musik noch laute Empörung, bis auf den nicht zu verstehenden Zwischenruf eines einzelnen Italieners. Die Reden sind gefeilt, bemüht, gehen nicht zu Herzen. Und die experimentelle Musik des jungen deutschen Musikertrios schon gar nicht. Als die auf eine Stunde angesetzte Veranstaltung nach knapp zwei Stunden noch nicht zu Ende ist, verlassen die Gäste reihenweise den Saal. Schade, wenn man in den Jahren zuvor sehr feierliche, sehr beeindruckende Eröffnungen erlebt hat.

Mittwoch, 16. Oktober 2024

Immer der schönste Messetag, weil alles noch so vorfreudig und frisch ist. Eigentlich wollten wir mit dem Begrüßungsempfang am Italienstand beginnen, der ist aber hoffnungslos verspätet.

Was sehen meine ungläubigen Augen: GEDRUCKTE Veranstaltungsprogramme. Von der Literaturbühne, diesem Konglomerat aus ARD, ZDF und 3sat, ZEIT und FAZ Bühne. Ich bin begeistert und viele mit mir. Weiter so. Wir beginnen mit der Literaturbühne, die im 20-bis-30-Minuten-Takt interessante Gespräche verspricht.

Martina Hefter (links) im Gespräch mit Cecile Schortmann
Martina Hefter (links) im Gespräch mit Cecile Schortmann

Martina Hefter, frisch gekürte dbp-Gewinnerin, ist zwar sympathisch aber farblos. Ich frage mich die ganze Zeit, wie sie mit dem nigerianischen Love-Scammer auf Deutsch kommuniziert? Werde ihr Buch lesen müssen.

Jürgen Trittin und Bärbel Schäfer – weise Worte eines erfahrenen Politikers
Jürgen Trittin und Bärbel Schäfer – weise Worte eines erfahrenen Politikers

Jürgen Trittin im Gespräch mit Bärbel Schäfer – locker und souverän. Er schaut in seinem Buch Alles muss anders bleiben auf ein durch die Art der täglichen Berichterstattung verunsichertes Land, stört sich an den plötzlichen Retroangeboten der Politik.

Susanna Tamaro (links) macht Lust auf ihr neues Buch
Susanna Tamaro (links) macht Lust auf ihr neues Buch

Susanna Tamaro, erinnern Sie sich? Vor gefühlt 30 Jahren erschien ihr so berührender Bestseller Geh wohin dein Herz dich trägt. Seitdem hat die fleißige Autorin 30 Romane geschrieben, alle mit der Hand. Ihr neues auf Deutsch erschienenes Der Wind weht, wohin er will besteht aus drei Briefen, die es in sich haben. Diese bescheidene Autorin ruht in sich und verströmt den Alfa-Effekt. Von ihr möchte man mehr lesen. Oder hören, wenn die Stimme stimmt.

Cordula Stratmann, Mrs. lit.cologne vereint Ernst und Humor in ihrem jüngsten Buch »Wo war ich stehen geblieben?«
Cordula Stratmann, Mrs. lit.cologne vereint Ernst und Humor in ihrem jüngsten Buch »Wo war ich stehen geblieben?«

Cordula Stratmann, die kölsche Komikerin, die auch in sich ruht, mit Neugier und Gelassenheit ihre Umwelt und Mitmenschen betrachtet und ihr Buch Wo war ich stehen geblieben? vorstellt. Sie meint, der Mensch sei ein Staffelholzträger. Interessant, dass Menschen, die auf der Bühne so urkomisch sein können, im Gespräch eher ernst auftreten.

Horst Evers meint, er verweigere nie ein Selfie. Gesagt, geknipst.
Horst Evers meint, er verweigere nie ein Selfie. Gesagt, geknipst.

Das ist bei Horst Evers genauso. Sein Erfolgsrezept ist: keine Zoten, keine Abstaube, keine Folklore und 90% Eigenkomik. Ich finde seinen Humor zum Brüllen komisch, und muss doch nicht ein einziges Mal lachen, wenn er über sein neues Buch Zu faul zum Nichstun spricht. Schade eigentlich.

Steffen Mau hat ein kluges Buch geschrieben
Steffen Mau hat ein kluges Buch geschrieben

Steffen Mau – angesagtester Soziologe und Gesellschaftsdeuter der Republik, plädiert dafür, den Osten anders sein zu lassen. Wir sind ungleich vereint. Er prägt den Ausdruck Ossifikation.

Sein Buch: Ungleich vereint.

Mithu Sanyal im angeregten Gespräch mit Denis Scheck
Mithu Sanyal im angeregten Gespräch mit Denis Scheck

Mithu Sanyal beeidruckte mit ihrem Erstling Identitti. Jetzt ist sie mit Antichristie brandaktuell. Darin lernen wir unter anderem, dass von 1880 bis 1920 100 Millionen Inder verhungerten.

Francesca Melandri hat in ihrem Buch Kalte Füße eine Abrechnung mit ihrem Vater und seiner Beteiligung im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine vorgenommen und durch ihre Recherche entdeckt, dass die italienischen Soldaten, die in Russland kämpften, überwiegend in der Ukraine waren und jahrzehntelang die Ukraine als Teil Russlands in Italien gesehen wurde.

Mir brummt der Kopf. Zeit für Happy hour – das Privileg von Messemittwoch und Donnerstag.

Wer Lust auf mehr bekommt, kann sich die Gespräche in der ARD-Mediathek ansehen (Teil 1 und Teil 2).

Donnerstag, 17. Oktober 2024

Der zweite Buchmessetag beginnt für mich mit der Pressekonferenz des nächsten Gastlandes:

Erwartungsvolle Abordnung des Ehrengastlandes Philippinen 2025 und Messedirektor Jürgen Boos ganz rechts
Erwartungsvolle Abordnung des Ehrengastlandes Philippinen 2025 und Messedirektor Jürgen Boos ganz rechts

2025 sind die Philippinen Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Bereits in diesem Jahr sind sie mit einer beeindruckenden Delegation bestehend aus Schreibenden und Literatursponsoren angereist. Man merkt, welch starke Bedeutung die Gastlandrolle für den 7.641-Südsee-Inselstaat und seine 117 Millionen Einwohner hat. 1998 waren sie mit einem 8 Quadratmeter großen Stand erstmalig auf der Messe vertreten und haben seitdem daran gearbeitet, eines Tages Gastland zu werden. Über 110 Sprachen werden auf diesen Inseln gesprochen und keine von allen Einwohnern. Deshalb tagt die Regierung auf Englisch.

Selten klingt ein verdeutschter Slogan besser als auf Englisch: Fantasie beseelt die Luft – The imagination peoples the air. Das genauere »Die Fantasie bevölkert die Luft« wäre nicht halb so gelungen.

Man darf gespannt auf diese beseelte Luft sein.

Heute wird es wieder einen Alfa Effekt geben:

Isabel Bogdan – sie erzeugt Alfa-Effekte
Isabel Bogdan – sie erzeugt Alfa-Effekte

Isabel Bogdan Mit Wohnverwandtschaften hat sie ein interessantes Buch über vier Personen geschrieben, die eine Zweck-WG bilden. Sie hat sich viele Gedanken gemacht zum Begriff Freundschaft und kommt zu dem Schluss: Freunde sind die Menschen, die dich mögen, obwohl sie dich kennen. Isabel spricht entwaffnend offen über die Schwierigkeit, aus vier verschiedenen Perspektiven zu schreiben. Am schwersten fiel ihr, sich in einen dementen Mann zu versetzen. Aus diesem Kapitel liest sie vor und das ist fantastisch. Das will ich ganz hören. Am Ende des Gesprächs erzählt sie, dass sie eine Gesellschaft für die Rettung des Wortes anderthalb gründen will. Wer ist dabei?

Druckfrisch mit Denis Scheck
Eloquent wie immer kommt der Betreiber der etabliertesten TV- Literatursendung daher, doch auch an deren Sein oder Nichtsein wird derzeit gerüttelt, nachdem der SWF die Einstellung von lesenswert bereits beschlossen hat. Politiker was ist los mit euch? Literatur ist lebensnotwendig. Gerade in kriegsbedrohten Zeiten. Und Sender wie 3sat müssen erhalten bleiben.

Ein Genuss, wie Scheck mit wenigen Worten auf die verschiedensten Bücher neugierig macht. Bedenklich, dass er fast nur positive Kurzdarstellungen gibt. Waren seine polarisierenden, bisher mutig geäußerten Meinungen für seine Chefs zu drastisch? Selbst sein von mir gehasstes »Vertrauen Sie mir, denn ich weiss was ich tue« hat er abgelegt und ins Gegenteil verdreht: Vertrauen Sie keinem Kritiker, sondern bilden Sie sich eine eigene Meinung! Erstaunlich

Dabei ernten seine spärlich gewordenen Bissigkeiten wie gegen Thomas Gottschalks »geriatrisches Gemurmel« große Lacher – wie auf Knopfdruck.

Nora Bossong im Gespräch mit Matthias Hügle
Nora Bossong im Gespräch mit Matthias Hügle

Wen möchte ich Ihnen hier noch vorstellen? Nicht alle, die ich mir angehört und -gesehen habe. Sondern die, die bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Die anderen finden Sie – auf Knopfdruck – alle im Internet. Noch können Sie – besonders bei YouTube – fast alle Standgespräche der Buchmesse nacherleben. Ein toller Service.

Nora Bossongs Reichskanzlerplatz habe ich bereits an anderer Stelle empfohlen:

Elif Shafak, die Jürgen Boos so berührt hatte, ist eine lesenswerte Autorin. Ihr Buch Am Himmel die Flüsse eröffnet ungekannte Perspektiven. Ihr wünsche ich eines Tages den Literaturnobelpreis.

Sabin Tambrea (links) im Gespräch mit Katty Salié
Sabin Tambrea (links) im Gespräch mit Katty Salié

Sabin Tambrea – der in Rumänien geborene Schauspieler, hat die Fluchtgeschichte seiner Familie als Roman geschrieben. Warum als Roman? Um genügend Abstand zu bekommen. Sein Beitrag zum Verständnis für Menschen, die alles verloren haben: Heimat, Freunde, Besitz, Zukunftsperspektive. Titel: Vaterländer.

Ein gutes Team: Beate Fischer-Kanehl (links), Mr. Literaturcafe.de, Barbara Fellgiebel
Ein gutes Team: Beate Fischer-Kanehl (links), Mr. Literaturcafe.de, Barbara Fellgiebel

Termin mit Wolfgang Tischer
Unser alljährlicher Austausch unvollständiger Eindrücke wird immer erfreulicher und lockerer schrieb ich letztes Jahr an dieser Stelle. So isses auch in diesem Jahr, wenngleich überbordende Freude und Faszination noch auf sich warten lassen. Das vorherrschende Gefühl ist: Augen auf, tief einatmen und durch! Warum eigentlich? Wegen der angespannten Weltlage? Der schwelenden Angst: Hoffentlich passiert nichts? Den vielen zusammengebissenen Gesichtsausdrücken, denen man anmerkt, dass sie vieles sagen möchten, sich aber nicht trauen?

Ich alterniere zwischen politischen Gesprächen und leichterer Kost. Jetzt ist das Pressegespräch mit Anne Applebaum dran. Sie ist – in ihren eigenen Worten – keine gegebene Friedenspreisträgerin. Sie ist blitzgescheit und warnt bereits seit Jahrzehnten vor Autokraten, die viel gemeinsam haben, egal ob sie ultrarechts oder ultralinks sind. Ich bin entsetzt, dass und wie sie zu Aufrüstung aufruft, und freue mich über alle, die ähnlich reagieren.

Freitag, 18. Oktober 2024

Die Jugend stürmt die Buchmesse – seit 2023 dürfen auch Nicht-Fachbesucher bereits ab Freitagmittag auf die Messe
Die Jugend stürmt die Buchmesse – seit 2023 dürfen auch Nicht-Fachbesucher bereits ab Freitagmittag auf die Messe

Es wird voller – insbesondere am Nachmittag, wo bereits im zweiten Jahr die Nicht-Fachbesucher zugelassen werden.

Am Wochenende wurde es voll
Am Wochenende wurde es voll

Ich suche den Weg zu den Young and New Adults, die in diesem Jahr erstmalig eine 8.000 Quadratmeter große Halle zur Verfügung haben, um ihren Idolen zuzujubeln. Die Notwendigkeit dafür hat die Leipziger Messe schon vor Jahren erkannt.

Eleonore Hochmuth (links) und Verlegerin Claudia Gehrke – Erfinderin der love bites
Eleonore Hochmuth (links) und Verlegerin Claudia Gehrke – Erfinderin der Love Bites

Abends trete ich in Offenbach im Rahmen der Kultshow Love Bites auf. Nein, nicht als Burlesquetänzerin, sondern mit frivolen Texten.

Samstag. 19. Oktober 2024

Was? Ich am Samstag auf der Messe? Ja, ich glaube es selbst kaum und nehme das Bad in den Massen als sportliche Herausforderung an. Teils auf der Jagd nach Schnappschüssen fürs literaturcafe.de, teils um Roberto Saviano live zu hören. Und wegen DIKKA. Sie kennen DIKKA nicht?

DIKKA begeistert Gross und Klein
DIKKA begeistert Gross und Klein im Nashornkostüm

DIKKA ist der angesagte Kinder- und Jugendrapper, der im grauen Nashornkostüm auftritt und Kinder mit ermutigenden Songs und Sprüchen fasziniert. Großzügig ist die Veranstaltung kostenfrei, und die Buchmesse hat den großen Raum Harmonie zur Verfügung gestellt, in dem auch die Eröffnungsfeier stattfand, sodass alle bequem Platz finden. Wegen der chaotischen Einlasssituation beginnt die Show eine halbe Stunde später. Welch geglückte Initiative für die Kleinsten.

Roberto Saviano (links) war nicht Teil der itailenischen Delegation – da lud ihn die Buchmesse direkt ein. Er war unverzichtbar. Hier im Gespräch mit Denis Scheck.
Roberto Saviano (links) war nicht Teil der itailenischen Delegation – da lud ihn die Buchmesse direkt ein. Er war unverzichtbar. Hier im Gespräch mit Denis Scheck.

Roberto Saviano hat einen Dokumentarroman über Giovanni Falcone geschrieben, den mutigen Richter, der sein Leben dem Zerschlagen der italienischen Mafia gewidmet und geopfert hat. Es fallen Sätze wie: Wer Angst hat, stirbt jeden Tag. Wer Mut hat, stirbt nur einmal. Mut wählt man, um sich selbst treu zu bleiben, unabhängig von den Folgen.

Giovanni Falcone wollte kein Märtyrer sein, im Gegenteil, er hat viel zu gern gelebt. Roberto hat als 12-Jähriger den ersten Auftragsmord miterlebt und lebt seit Jahren unter Polizeischutz. Seine Beschützer stehen auffällig unauffällig in dunklen Anzügen mit hellblauen Krawatten rechts und links von der Bühne. Der Mut ist einsam, fährt Roberto fort. Er hat keine Todesangst, nur Angst, immer so unfrei weiterleben zu müssen. Dank der Literatur, die er liest und die er schreibt, fühlt er sich unsterblich.

Noch eine Druckfrisch-Ausgabe, die sich in großen Teilen von der vorherigen unterscheidet. Ungewöhnlicher Lyriktipp von Denis Scheck: Nach Eden – ein Langgedicht von Daniela Seel.

Bleiben Sie uns gewogen, ist seine heutige Abschiedsfloskel.

Sheroes: Jagoda Marinić (rechts) spricht mit Ines Geipel "Fabelland"und Marlen Hobrack "Erbgut"
Sheroes: Jagoda Marinić (rechts) spricht mit Elke Heidenreich (links) und Eva Demski

Sheroes möchte ich noch erwähnen, die vor drei Jahren von Jagoda Marinić gegründete Plattform für weibliche Helden. Dort stellt sie heute Ines Geipel vor. Die ehemalige DDR-Leichtathletin hat sich mit deutscher Gewaltgeschichte beschäftigt und mit Fabelland ein aufschlussreiches Buch über die gesellschaftliche Situation in Deutschland geschrieben. Hier in der ARD-Mediathek.

Sonntag, 20. Oktober 2024

Wie immer endet die Buchmesse mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Hier bequem in der ARD-Mediathek nachzuerleben.

Die Rede der Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Karin Schmidt-Friderichs ist ein Musterbeispiel an brillanter Rhetorik: Sie vereint ihre Anerkennung für die politische Aufklärungsarbeit Anne Applebaums und drückt gleichzeitig ihre Ablehnung zum Aufruf »Frieden nur durch Aufrüstung« aus. Eleganter und weniger verletzend geht nicht.

Der berührendste Stand dieser Messe: Feda Shtia - Eine junge Palästinenserin hat Kinder in Gaza fotografiert und versucht ihr Buch bekannt zu machen
Der berührendste Stand dieser Messe: Feda Shtia – Eine junge Palästinenserin hat Kinder in Gaza fotografiert und versucht ihr Buch bekannt zu machen

Meine Frankfurter Buchmessewoche beende ich mit einem Filmtipp, der passender nicht sein kann:

Farbschnitt muss sein: Sammlerobjekte der Young-Adult-Leserinnen
Farbschnitt muss sein: Sammlerobjekte der Young-Adult-Leserinnen

Sehen Sie sich den Feelgood-Film Der Buchspazierer mit Yuna Bennett und Christoph Maria Herbst an. Und mit dem Minigedicht meines Frankfurter Lieblingsbarden Robert Gernhardt:

Ums Buch ist mir nicht bange.
Das Buch hält sich noch lange.

Mögen wir alle bis zur nächsten Buchmesse den Preis erhalten haben, den Salman Rushdie 2023 an dieser Stelle lieber empfangen hätte: ein Fläschchen Frieden.

Barbara Fellgiebel
mit Fotos von Beate Fischer-Kanehl

Zu guter Letzt ein paar der vielen Bücher, auf die ich neugierig bin:

Cordula Stratmann: Wo war ich stehen geblieben?
Susanna Tamaro: Der Wind weht, wohin er will
Horst Evers: Zu faul zum Nichtstun
Steffen Mau: Ungleich vereint
Jürgen Trittin: Alles muss anders bleiben
Mithu Sanyal: Antichristie
Francesca Melandri: Kalte Füße
Martina Hefter Hey, guten Morgen wie geht es dir?
Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften
Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse
Sabin Tambrea  Vaterländer
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Daniela Seel: nach Eden
Roberto Saviano: Falcone
Ines Geipel: Fabelland

Barbara Fellgiebel ist langjährige Buchmessen- und Literaturfestival-Beobachterin. Auf dieser Messe hat sie eine neue Berufsbezeichnung für sich entdeckt: Literaturvermittlerin. Sie verweigert sich nach wie vor erfolgreich den sozialen Medien.
Sie freut sich aber über Ihre Reaktionen hier als Kommentar oder an alfacult(at)gmail.com.

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3 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen so kritisch beleuchteten und unterhaltsam geschriebenen Gang durch die Messe-Tage, es ist eine Freude, Ihren Artikel zu lesen! Und die „Neugier“ Bücher-Liste am Ende rundet ihn ab.

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