Eine Woche Frankfurter Buchmesse – für Barbara Fellgiebel das literarische Highlight des Jahres, alle Jahre wieder. Ihre Messeimpressionen sind eine Tradition im literaturcafe.de. Lassen wir also die Buchmesse 2014 nochmals mit den Augen von Barbara Fellgiebel Revue passieren. Und Frau Fellgiebel hat wie immer viel gesehen.
Montag, 6. Oktober 2014
10. dbp – das heißt, der Deutsche Buchpreis wird zum 10. Mal verliehen. Neunmal war ich dabei. Same procedure as last year? Nicht ganz. Alles ist etwa größer, der Eingang ist verlegt, eine Band spielt auf und – egal ob Pressevertreter oder Gast – eine Hostess eskortiert jeden zu einer roten Wand, vor der man professionell abgelichtet wird. Zu mir gesellt sich der Literaturpreisverantwortliche des Goetheinstituts, und schon befinde ich mich in interessanter Gesellschaft. Im Kaisersaal, wo die eigentliche Verleihung stattfindet, sitzt Claudia Kaiser neben mir, die Buchmesseverantwortliche in Indonesien – dem Gastland 2015. Sie erinnert sich an unser Gespräch vor ca. 8 Jahren. Hinter mir sitzt Mr. Focus, Helmut Markwort, der mich ebenfalls freudig begrüßt. Ich staune – nicht nur über die jugendliche Erscheinung des 77jährigen Verlegers. Petra Gerster sitzt zwei Reihen vor mir. Sie grüßt mich nicht.
Anderes ist wie immer: Gert Scrobel verirrt sich in der Antike und gibt – ähnlich wie im Jahr zuvor – einen Auszug aus einer seiner so beliebten Wissenschaftssendungen. Hier ist er fehl am Platz. Das Publikum stöhnt verhalten. Dreieinhalb der sechs shortgelisteten Romane spielen auf einer Insel, stellt er nach seinem Exkurs in die Vergangenheit fest, und die Präsentation der sechs Kandidaten ist wie immer informativ und wohlformuliert.
Im Interview mit Jurypräsidentin Wiebke Porombka versucht Gert Scrobel auf Marlene Streeruwitz zu sprechen zu kommen, die sich – nachdem sie nicht auf die Shortlist kam – aus dem Literaturzirkus hinauskatapultiert hat. Doch geschickt befand Wiebke Porombka, man solle sich lieber auf die sechs Autoren der inneren Auswahl konzentrieren. Und so ergab die Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers Lutz Seiler nichts als angemessenen Beifall – weder Jubel noch Buhrufe, weder Tränen noch Zornesausbrüche à la Clemens Meyer beim dbp 2013. Alles war gesittet und gemäßigt. Schade eigentlich.
Wie gut, dass ich beim anschließenden Essen die Daedalus-Verleger Hiltrud und Joachim Herbst kennen lernte und so viele gemeinsame Berührungspunkte entdeckte, sonst wäre es eine arg langweilige Veranstaltung geworden. Beim Verlassen des Römers erhält jeder Gast eine rote Tüte mit einer interessanten Dokumentation der ersten dbp-Dekade. Auf die zweite!
Dienstag – 7. Oktober 2014
An diesem Tag widme ich mich meist der Presseshow des Gastlandes (in diesem Jahr Finnland), lerne das nicht immer offensichtliche Konzept zu verstehen und zu würdigen und beschließe den Abend mit dem Open books-Blauen-Sofa-Event im Schauspielhaus … nicht in diesem Jahr: Da besuche ich stattdessen eine erkrankte 80jährige Freundin in Hamburg mit der Gewissheit, sie das letzte Mal lebend zu sehen. So stehe ich um 17:30 Uhr auf dem Hamburger Hauptbahnhof, höre über Lautsprecher, dass eine kurdische Anti-ISIS-Demonstration einen polizeilichen Großeinsatz bewirkt hat und jeglicher Zugverkehr eingestellt ist. Da außerdem die Lokführer ab 21 Uhr streiken, weiß ich nicht genau, wie ich am Mittwochmorgen um 9 Uhr im Messegelände Frankfurt auf der Matte stehen soll – ein ungutes Gefühl.
Mittwoch – 8. Oktober 2014
… Hab’s aber geschafft! Erster Messetag. Grau in Grau, sowohl Wetter als auch Männer. Mehr dazu später. Problemlos akkreditieren wir uns in der nagelneuen Business Lounge (in der es vor grauen Männern nur so wimmelt) und registrieren erfreut Altvertrautes sowie die vielen Neuerungen. Leider gehören dazu gewaltige Sparmaßnahmen, wie zum Beispiel die Einstellung der ach so beliebten, amüsanten, informativen täglichen Messezeitung der FAZ. Die Redakteure schaffen die 5-tägige Doppelarbeit nicht mehr.
Im Pressezentrum sind die Computer auf die spärliche Anzahl von 14 (in Worten: vierzehn) geschrumpft. Damit sollen 9.000 akkreditierte Journalisten die größte Buchmesse der Welt dokumentieren? Lachhaft zu glauben, dass jeder Angehörige dieser Zunft mit eigenem Laptop unterwegs ist. Ich beschwere mich bei dem netten Personal, dem die Sachlage sehr peinlich ist, und bekomme zu hören: Wie gut, dass Sie Kritik üben, wenn mehrere das tun, wird es vielleicht im nächsten Jahr wieder besser …
Im Finnlandpavillon bestaunen wir die wohlig warme Eiseskühle und sitzen pünktlich um 10 Uhr bei Roman Schatz und seiner Finnlandisierung, Teil 1. Er stellt sich vor als Opfer der hormonalen Migration, wollte keine Fernbeziehung führen (sagt stattdessen Fernbedienung) und kam so vor 28 Jahren nach Finnland. Er begrüßt zögerliche Gäste mit „Heroinspaziert!“ und beginnt, finnische Klischees zu bestätigen bzw. abzubauen.
So fängt er mit der Sprache an, die aussieht, als habe ein Kind auf der Tastatur gespielt. Eine Sprache, die keine Präpositionen, aber 16 Fälle hat, weder er noch sie kennt, sondern hän für Männlein und Weiblein benutzt, und in der ein Gedicht folgendermaßen lauten kann:
Syksy
Symtyy tyly pyry
Myrskyn rytkytys yltyy
Fünf Millionen Finnen sprechen diese ugrische Sprache, eine Million Esten sprechen Estnisch und 14 Millionen Ungarn Ungarisch, die jeweils auch zu den 24 existierenden ugrischen Sprachen gehören.
Moskitos ohne mos , d.h. Kiitos = danke beendet die erste amüsante Lektion.
Wolf Haas ist immer wieder ein Genuss. Diesem bescheidenen österreichischen Sprachakrobat zuzuhören, macht einfach Spaß. Sein neuestes Buch Brennerova handelt von einem Tätowierer, und Haas meint:
»Seit Horaz hat sich das Verhältnis Autor zu Tätowierer sehr zu Ungunsten des Autoren verändert.«
Seine Sprache sei vom »Sprach-Ebola-Virus« geprägt, und so manch Leser verfällt in sein symptomatisches »Also, jetzt pass auf!«
»Mit dem Erzählen beginnt jeder Mensch, wenn er seine Eltern anlügt.« Zum Krimi kam er unfreiwillig, nachdem ihn über zehn Jahre kein Verlag veröffentlichen wollte. »Das werd ich wohl noch können, wenn ich zum richtigen Schriftsteller zu blöd bin.« dachte er sich. Und nun kehrt er wie ein ungezogenes Kind zum Krimigenre zurück, nachdem seine zwei Nichtkrimis ihm bedeutende Preise eingebracht haben, und die Kritik meinte, er habe zur richtigen Zeit den Absprung vom Krimi gefunden. Nun gerade nicht.
Denis Scheck – Mr. Druckfrisch seit 11 Jahren, ist sprühender Laune und empfiehlt bzw. warnt vor einer beachtlichen Anzahl verschiedenartigster Bücher. Wann hat dieser Mensch nur Zeit, alle diese Bücher zu lesen, oder – wenn er sie nicht selbst liest, sich zu merken, was er initiiert, über welches Buch sagen will? Seines Erachtens ist Thomas Hettches Pfaueninsel der beste Roman des Jahres, aber auch Kruso, der siegende Roman Lutz Seilers, landet nicht im unerbittlichen Orkus der Nicht-Literatur.
»Es gibt keinen Bären, den Sie Deutschen nicht zwischen zwei Buchdeckeln aufbinden können, und trauen Sie keinem!« rät er seinem Publikum.
Sofie Oksanen – Rockstar der finnischen Literatur – fällt auf ihrem Weg zum ZEIT-Stand ihrer auch nicht gerade unauffälligen Kollegin Rosa Liksom um den Hals. Sofie Oksanen hat mit ihrer Rede auf der Eröffnungsveranstaltung großen Eindruck geschunden und widerlegt alle geringschätzenden Vorurteile, ein spektakulärer Phantasievogel à la Lady Gaga könne nicht blitzgescheit und absolut ernst zu nehmen sein.
Es ist immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich die Auftritte desselben Autors an verschiedenen Ständen sind: Es liegt ganz einfach am Moderator, dem es im besten Fall gelingt, ein Gespräch zu führen, im schlechtesten nur ein (langweiliges) Interview.
Giovanni di Lorenzo bei der FAZ ist ganz anders als »zu Hause« bei der ZEIT mit Iris Radisch. Er spricht über die in Buchform erschienenen 20 Gespräche, die er unter den hunderten seiner über 30-jährigen Karriere ausgewählt und zusammengestellt hat. O-Ton: »In einem gelungenen Gespräch gibt der Gesprächspartner etwas von sich preis!« Das gelingt ihm in beiden Fällen. So gibt er unumwunden zu, dass er in jungen Jahren öfter den Fehler machte, das Interviewopfer auf die eigene These festnageln zu wollen. Vom Aufstieg und anderen Niederlagen heißt sein Buch, auf das man neugierig wird!
Im Pressezentrum treffe ich Annegret Heinold, die ihre Liebe zu Portugal erfolgreich in dem lesenswerten Buch 111 Gründe, Portugal zu lieben dokumentiert hat.
Donnerstag –Â 9. Oktober 2014
Es regnet. Der zweite Messetag beginnt glücklich. Ich treffe Nino Haratischwili, die Georgienspezialistin, die zur lit.algarve bei ALFA war und mit ihrem neuen 1.200 Seiten starken Buch Das achte Leben Kritikerelogen einheimst, von denen viele Kollegen nur träumen können. Auf dem Weg zur Finnlandisierung Teil 2 singt Cecilia Bartoli eine der kürzlich von ihr entdeckten russischen Barockarien. Das ist Glück pur für mich, beseelt und beflügelt.
In der Brain Poetry Rotunde erstelle ich mein zweites Gedicht, d. h. mir wird ein Gehirnwellen ablesendes Gerät auf den Kopf gestülpt, ich wähle Deutsch oder Englisch, gebe meinen Namen ein, und schon dichtet der Gehirndetektor ohne mein weiteres Zutun:
Gestern: Die Mädchen sind mit frischem Laub bekränzt.
Heute: ratlos vom Frühlingsabendhimmel
Starr beugt die Menschenhand mir still.
Ich hör, wie an Geländ still.
Die Genien aber erzählen.
Hm. Morgen mach ich das auf Englisch. Mal sehen, was es da so in mir denkt.
Bei der Finnlandisierung geht es heute um Sauna – Sisu – Sibelius, der auf Finnisch SÃbelius heisst, also mit Betonung auf der ersten Silbe. Wir lernen, dass das deutsche Saunagehabe eine reine Beleidigung für Finnen ist und dass Sisu so viel wie Durchhaltevermögen – Toughness – bedeutet.
Weiter geht es mit den persönlichen Glücksmomenten: Während mir meine Kollegin einen heißbegehrten Stuhl am ZEIT-Stand frei hält, nutze ich die kostbare Zeit und wandere durch die Gänge. Prompt laufe ich mitten in ein ZDF-Interview mit Roger Willemsen. Es wird aufgezeichnet, also unterbricht er sich und begrüßt mich herzlich. Und dann passiert etwas Historisches: Ich bin weder schadenfroh noch gehässig, freue mich aber, zum ersten Mal einen Versprecher aus seinem Mund zu hören, der ihn dazu veranlasst, diesen Satz noch einmal aufzunehmen. Wie menschlich sympathisch, nachdem ich am Vortag auf youtube einen 50-minütigen Nonstop-Vortrag (frei natürlich) ohne auch nur einen Anflug von Hm, äh, sozusagen, gewissermaßen … bewundert habe.
Zurück zum ZEIT-Stand, an Bodo Kirchhoff, der bei FAZ sein neuestes Buch vorstellt, und Judith Hermann, die sich unterschiedlichsten Reaktionen auf ihren ersten Roman ausgesetzt sieht. Lutz Seiler, Träger des deutschen Buchpreises 2014, ist klein, zierlich, zurückhaltend, aber bestimmt und ausdrucksstark. Er schreibt nicht nur poetisch, er spricht auch so und sagt Sätze wie »Das Ohr ist beim Schreiben das Leitorgan. Jeden Satz muss man hundertmal vor sich hinsprechen um im Idealfall rhetorische Skulpturen zu schaffen. Es gibt nur die Unabdingbarkeit des Schreibens.« Er hält Gedichte für die spannendere Gattung.
Schade, dass Alexander Cammann so viel selbst redet, Lutz Seiler hätte man gern länger zugehört. Vielleicht wäre er dann auch auf das eigentliche Anliegen seines ersten Romans Kruso zu sprechen gekommen: Ja er spielt auf der Insel Hiddensee im Sommer 1989, also relativ kurz vor dem Mauerfall, handelt von einer Art innerer Emigration, aber das eigentliche Thema ist die Problematik der homo-erotischen Männerfreundschaft, die sich für Tausende von Männern bei wirklich guten Freundschaften stellt. Ist das zu brisant? Zu tabu? Noch immer?
Oliver Polak – vermeintlich komischer Standup-Unterhalter, der noch immer sein Jüdischsein zum (einzigen) Thema hat – ist aktuell mit seinem neusten Buch Der jüdische Patient. Er versucht als deutscher Jude Komiker zu sein. Dazu sagt ihm ein amerikanischer Kollege, es gäbe sechs Millionen Gründe, dass dies nicht funktionieren könne. Ha hm ha.
Amelie Fried ,Traumfrau mit Lackschäden, spricht mit Christoph Bungartz über ihr neustes Buch mit ebendiesem Titel. Mit gewohnt professioneller Natürlichkeit, ohne Ecken und Kanten, da stimmt alles, da passt alles, dazu fällt einem nichts ein.
Zeitgleich erhält Patrick Modiano den diesjährigen Literaturnobelpreis. Kein Raunen, Schreien, Beifall geht durch die Hallen. Nur Jo Lendle soll auf dem Tisch getanzt haben, wird später erzählt. Er ist der neue Verlagsleiter vom Hanser Verlag, und der hat den Autor natürlich im Angebot, wenngleich nicht mit einem einzigen Buch auf der Buchmesse. Aber das ändert sich natürlich bis zum nächsten Tag. Doch auch Suhrkamp, Diogenes und Ullstein bekommen ein paar Strahlen Nobelglanz ab, dort sind nämlich auch Teile von Modianos recht umfangreichem Werk erschienen. Denis Scheck äußert sich positiv über diese Entscheidung, er hat ihn natürlich gelesen, fast allen anderen ist er weitgehend unbekannt (übrigens auch manchen Franzosen!). Liebes Nobelkomittee! Hatten Sie Angst, zu politisch zu entscheiden? Wollten Sie bewusst kein Zeichen setzen? Schade eigentlich.
Florian Schröder spricht mit Jule Golsdorf über Hätte, hätte Fahrradkette, den Zwang zur optimalen Entscheidung, der grenzenlosen Selbstoptimierung und meint: Hohe Erwartung tötet jeden Genuss.
Weiter zum blauen Sofa, wo Hape Kerkeling über seine Kindheitserinnerungen sprechen soll. Tut er aber nicht. Sehr zum Bedauern hunderter Fans hat er kurzfristig abgesagt. Stattdessen das Allgäuer Krimipaar Klüpfel/Kobr. Nicht so mein Ding.
Die beiden WELT-Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff haben ein bemerkenswertes Buch zum 25. Jahrestag des Mauerfalls geschrieben, das sich aus Zeitzeugenberichten und historischen Analysen zusammensetzt.
Gerhard Steidl – der legendäre Verleger von u. a. Günter Grass und Karl Lagerfeld – spricht faszinierend über seine Affinität zum analogen Foto und gibt Einblick in seine Verlags- und Bücherphilosophie.
Nein, er ist nicht mit seinen illustren Autoren befreundet, er bezeichnet sie lieber als Arbeitsfreunde, mit denen er abends nicht am Tisch rumsitzen will. Das bringt nichts.
Der zweite Tag klingt mit herrlichen Happy Hours aus – auch das gehört zur Messe.
Freitag, – 10. Oktober 2014
3. Finnlandisierung. Doch zunächst zu meinem Gehirngedicht. Wie gesagt, heute auf Englisch:
I love him more so let me love you too.
I make haste out into the dark.
I lead them most and least by a passage I know well
I keep them one half minute fixed
I dinna envy him the gains he can win.
Heute geht’s um die Natur. Wir lernen, dass Finnland 5,4 Millionen Einwohner hat auf einer Fläche von ungefähr Deutschland, dass Finnland NICHT zu Skandinavien gehört (Skandinavien sind nur Dänemark, Schweden und Norwegen! Hätten Sie’s gewusst?), dass das Land der 1.000 Seen in Wirklichkeit 187.888 Seen hat, wobei ein See mindestens 500 Quadratmeter groß ist, dass es 179.000 Inseln gibt und Finnland das bewaldetste Land Europas ist.
Und und und – alles sehr informativ. Gut gemacht.
Roger Willemsen spricht über 2013, das er weitgehend auf der Tribüne des Deutschen Bundestages verbracht hat, um im Frühjahr 2014 – rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse – Das Hohe Haus herauszubringen. Warum? »Um dem Publikum etwas zurückzugeben.« Und er sagt so entlarvende Sätze wie: »Aufmerksamkeit ist die Währung im Parlament. Und die ist rar. Da rüpelt das Parlament so vor sich hin. Wenn Menschen sagen, ich bin fest überzeugt, und das tun viele, besonders namhafte Politiker, dann sind sie weder fest noch überzeugt.«
Er gibt – wie immer – viel von sich preis, d.h. es wirkt so, und er ist – nach wie vor – Deutschlands eloquentester Publizist. Immer wieder eine Freude, diesem klugen Kopf bei seiner perfekten Handhabung der deutschen Sprache zuzuhören.
Martin Walker – krimischreibender Schotte – lebt im Perigord in Frankreich und hat dieser touristisch nicht sehr bekannten Gegend mit seinen Büchern zu ungeahnter Popularität verholfen. Er ist glücklich, hat einen Hahn Sarko (nach Sarkozy) und vier Hühner:
- Carla – die Schöne
- Hilary – die herausfordernde
- Maggie – die drängt sich immer vor
- Angela – die legt die meisten Eier
Was macht er richtig? Was hat Peter Mayle seinerzeit in der Provence falsch gemacht? schießt mir durch den Kopf. Er musste schließlich fluchtartig das Land verlassen.
Henning Venske hat zu seinem 75. Geburtstag auf Drängen seines Verlages seine Memoiren verfasst: Es war mir ein Vergnügen heißt das aufschlussreiche Buch dieses humorvollen, unbequemen Mannes.
Er erntet donnernden Applaus für Sätze wie:
»Wenn man etwas macht, mit dem Ziel auf Quote, kann das Ergebnis nur mittelmäßig werden.«
»Früher durfte man im Fernsehen nicht sagen, ein Politiker sei Scheiße. Aber ein Produkt konnte man ungeschoren so bezeichnen. Heute ist es umgekehrt«.
Bärbel Schäfer führt das Gespräch. Leider wartet sie mit unangebrachter Flapsigkeit und missglückten Unterbrechungen ihres fast finnisch anmutenden wortkargen Gesprächspartners auf. Lieber Herr Venske: Sie klagen, dass Sie keine Aufträge mehr beim Fernsehen bekommen (»die kennen mich nicht mehr in der Redaktion«)?
Nehmen Sie Hörbücher auf und verewigen Sie Ihre wunderschöne Stimme!
Herta Müller spricht über ihr neuestes Werk Mein Vaterland war ein Apfelkern, das aus einem langen Interview mit Angelika Klammer besteht. Leider hat sie das mündliche Interview in Schriftsprache geputzt und gestutzt, was dem Gespräch die Lebendigkeit nimmt. Aber Sätze wie »Ich bin aufgewachsen in einem fingerhutkleinen Dorf« entschädigen.
Und dann spricht sie über die Angst: »Wenn die Angst verallgemeinert ist, kann man unterdrücken und Diktatur ausüben. Ich glaube an die Angst der umgekehrten Wirkung, Angst, mit sich selbst nicht mehr zurecht zu kommen. Putin ist der typische Geheimdienstler: Nonchalance – Arroganz des Tuns und Feigheit des Nichtzugebens.«
Auf der Rolltreppe zum Blauen Sofa fährt vor mir ein voluminöser Resthippie in hüftlangen, jahrelang weder entzausten noch gewaschenen Rastalocken. Ich frage mich und meine Kollegin, ob das Wesen männlich oder weiblich ist – wir haben keine Antwort, werden von der unangenehmen Stinkwolke, die es verbreitet jedoch fast umgehauen:
Das Stinktier der Messe ist Jaron Lanier – der diesjährige Träger des Friedenspreises, Künstler, Musiker, Erfinder, Professor in Berkeley und Guru in Silicon Valley.
Wolfgang Herles‘ Frage nach der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine lässt ihn hysterisch aber von Herzen auflachen.
»Ich liebe Silicon Valley und hoffe, dass die Leute outside nicht allzu beeindruckt von uns sind – wir sind sehr roh, aber wir sind die netteste Elitegemeinschaft, die man sich denken kann.«
Sein Fazit:
»Nehmt euer Leben selbst in die Hand und lasst euch nicht als Produkt vermarkten, denn genau das tun Facebook, Amazon und andere mit euch.«
Während Gaby Hauptmann ihren Gesprächspartner zum Erröten bringt und mit ihren Texten erstaunlich viele Teenies in ihren Bann zieht, kommt Wolfgang Tischer, Mr. literaturcafe.de, mit gezückter Kamera über die Agora, den großen Platz zwischen den Messehallen. Er genießt das neue Format seiner Messebeobachtung. Und dann mache ich die Entdeckung dieses Tages: Bastian Bielendorfer, der urkomisch aus seinem neuesten Buch Mutter ruft an vorliest. Ein begnadeter Jungautor, dem gelungene Formulierungen am laufenden Band einfallen. Und schlagfertig ist er außerdem.
Weiter zu Andreas Steinhöfel, dem Autor sehr besonderer Kinderbücher. Sein neuestes ist anders und heißt Anders und dürfte Erwachsene mindestens so interessieren wie Kinder, insbesondere wenn sie unangepasste, verhaltensauffällige Kinder in ihrem Umfeld haben. Auch er spricht von Angst, ist besorgt über das Zunehmen der überbehüteten Sturzhelmgeneration und meint, von der guten Absicht zur Bevormundung sei der Weg sehr kurz. Nein, er glaubt nicht, mit seinen Büchern die Menschen zu verändern, nur Denkanstöße, die will er geben.
Zur Bücherfrau des Jahres wird die Übersetzerin, Buchhändlerin, Finnlandexpertin und vieles mehr Regine Elsässer gewählt und mit einer grandiosen Laudatio bedacht, die zwei Bücherfrauen im Dialog halten. Daran sollten sich viele Halter von stinklangweiligen Laudationes ein Beispiel nehmen (Kannten Sie den Plural von einer Laudatio? Internet machts möglich!). Schnell noch lit.algarve Autorin Kerstin Lange begrüßt und weiter, denn zeitgleich gibt Titus Müller angehenden Lektoren gute Ratschläge aus seiner vielfältigen Erfahrung als Autor historischer Romane. Auch er war Teilnehmer der lit.algarve, und entsprechend herzlich ist unser Wiedersehen.
Weiter zum Weltempfang des Goethe-Instituts und zur Katharinenkirche, wo in diesem Jahr erstmalig »Zwischen Zeilen« veranstaltet wird: An drei Messetagen lesen namhafte Autoren und Übersetzer Texte interessanter Autoren. Leider ist der Zeitpunkt (18 bis 19 Uhr) unglücklich gewählt. Eine Stunde später wäre besser!
Samstag –Â 11. Oktober 2014
Mein Endspurt, Großkampftag. Cosplay-Manga-Präsenz.
Um 10 Uhr – wie jeden Tag – auf zur Finnlandisierung. Mir tut es jetzt schon leid, den morgigen letzten Teil zu verpassen. Teil 4 behandelt
- Das Paradies für Frauen und andere sexuelle Minderheiten.
- Finnische Gleichberechtigung: Erst verführt sie dich mit zartem Charme, dann führt sie dich mit starkem Arm.
- Finnland führte als erstes Land Europas 1907 aktives und passives Frauenwahlrecht ein.
Nai minua – fick mich
Nai minut – heirate mich
Die Verwechslung kann fatal sein …
Im Jahr 2000 währten finnische Ehen im Durchschnitt 12 Jahre, 2005 11 Jahre, 2010 10 Jahre – wenn das linear so weitergeht, geht man 2060 zum Standesamt, heiratet im einen Raum und lässt sich im nächsten scheiden … Und dann hagelt es Eheweisheiten:
Nähe ohne Stress gibt es nur auf dem Friedhof
Liebe macht blind, Ehe öffnet die Augen
Morgen ist der Alkohol Thema, aber leider ohne mich.
Michael Kleeberg stellt Vaterjahre auf dem blauen Sofa vor. Wieder einer der vielen grauen Männer.
Da nutze ich die Stunden bis zu Ingrid Nolls Auftritt lieber im Pressezentrum, kann mir zum Glück einen der raren Computer krallen und erfahre, dass in diesem Jahr »nur« 7.100 Aussteller aus 103 Ländern da sind, das bedeutet ca. 100 Aussteller weniger als im vergangenen Jahr, ca. 400 Aussteller weniger als im Rekordjahr 2010. Auch die Besucherzahlen scheinen 2009 mit knapp 300.000 das Maximum erreicht zu haben und sinken seitdem auf 275.000 im vorigen Jahr, die offizielle Zahl für 2014 ist zu schreibender Stunde noch nicht veröffentlicht. Das darf man weder als Katastrophe noch Misserfolg deuten.
Die Frankfurter Buchmesse ist die größte Buchmesse der Welt, mit einer Beteiligung von 103 Nationen die internationalste und wichtigste der Branche. Und das wird sie auch im kommenden Jahr sein, wenn Indonesien bunt schillerndes Gastland ist und uns wieder eine neue Kultur näher bringt.
Ingrid Noll kommt mir im Gang entgegen, und als alte mörderische Schwestern duzen wir uns wie alte Freundinnen. Sie ist mit Filmteam unterwegs, das zu ihrem 80. Geburtstag im September nächsten Jahres einen Dokumentarfilm macht. Was Udo Jürgens kann, kann Ingrid auch!
Sie hat sich wieder einen Wohlfühlkrimi ausgedacht, der allgemein wohliges Schmunzeln verursacht, und bringt die beachtliche Fanmenge mit originellen Grabesinschriften zum Lachen:
»Hier liegen meine Gebeine – ich wünscht‘ es wären deine!« »Bleib wo du bist«
Die Angst scheint Thema Nr. 1 zu sein: Annette Pehnt war jahrelang Angstsammlerin und hat die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher zusammengestellt. Sie wir gern als Einsamkeitsexpertin oder Alleinseinsbeauftragte bezeichnet.
Meine Buchmesse 2014 endet in strahlendem Sonnenschein an der offenen Bühne, wo Stefanie Hempel ihr Buch Beatles total vorstellt und mit »It’s a hard day’s night!« musikalisch illustriert. Wie passend.
Barbara Fellgiebel
Bücher auf die ich mich besonders freue:
- Wolf Haas: Brennerova (als Hörbuch vom Autor gelesen!)
- Andreas Steinhöfel: Anders
- Giovanni di Lorenzo: Vom Aufstieg und anderen Niederlagen
- Hape Kerkeling: Der Junge muss an die frische Luft
- Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft
- Ingrid Noll: Hab und Gier
- Nino Haratischwili: Das achte Leben
- Bastian Bielendorfer: Mutter ruft an
- Henning Venske: Es war mir ein Vergnügen
- Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Der Mauerfall – Erinnerungen zum 25. Jahrestag
Barbara Fellgiebel ist passionierte Buchmessen- und Literaturfestivalbesucherin und verweigert sich erfolgreich dem Schneller-kürzer-visueller-Wahn. Bei ihr darf noch gelesen werden, mit Ruhe und Genuss. Auf Wiederlesen!
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Wieder so ein sachkundiger, reichhaltiger und atmosphärisch anregender Bericht.
Wer einmal hinter oder neben Barbara non-stop über die BUchmesse gelaufen ist, wird jede beneiden, die solche happy days und happy hours erleben darf, alle Jahre wieder aufregend, voller Interesse und Witz und Treffsicherheit und ohne eine Spur von Sattheit.
Bloß die maschinell erstellten Poeme sind …naja.
Ich gehöre zu den “sehnsüchtig Wartenden”, liebe Barbara Fellgiebel. Auch Ihr diesjähriger Bericht von der Frankfurrter Messe ist spritzig und informativ. Ich habe mir sofort ein paar Bücher bestellt, da ich mich bisher gut auf Ihr Urteil verlassen konnte. Die Art, wie Sie die Akteure auf der Messe charakterisieren, ist klasse, bestätigen natürlich auch einige meiner Vorurteile (?) gegenüber dem aufgeblasenen Literaturbetrieb.