StartseiteBuchkritiken und TippsFür Kinder oder King-Fans? Stephen King erzählt Hänsel und Gretel

Für Kinder oder King-Fans? Stephen King erzählt Hänsel und Gretel

Stephen King und Maurice Sendak: Hänsel und Gretel (mit den Figuren aus »Wo die wilden Kerle wohnen«)
Stephen King und Maurice Sendak: Hänsel und Gretel (mit den Figuren aus »Wo die wilden Kerle wohnen«)

Stephen King hat das Märchen »Hänsel und Gretel« der Gebrüder Grimm neu erzählt. Inspiriert dazu haben ihn Zeichnungen von Maurice Sendak (»Wo die wilden Kerle wohnen«). Ist das ein Bilderbuch für Kinder oder ein Sammlerstück für King-Fans?

Stephen King ist ein experimentierfreudiger Autor. Er schrieb exklusive E-Books (»UR«), arbeitete an gruseliger Software mit (»F13«) oder schrieb das Libretto zu einem Musical (»Ghost Brothers of Darkland Country«).

Volksmärchen und Oper vereint

Jetzt, im Herbst 2025, ist Stephen Kings Nacherzählung von »Hänsel und Gretel« erschienen. Die Zeichnungen des Bilderbuches stammen von Maurice Sendak. Genauer gesagt: Stephen King ließ sich von grafischen Arbeiten Sendaks inspirieren, die dieser für die Opern-Version des Märchens von Engelbert Humperdinck angefertigt hat. Den meisten dürfte der US-amerikanische Zeichner durch den Kinderbuch-Klassiker »Wo die wilden Kerle wohnen« aus dem Jahre 1963 bekannt sein. Sendak gestaltete Bühnenbild und Kostüme für eine Inszenierung an der Houston Grand Opera im Jahre 1997 – mehr als drei Jahrzehnte nach seinem größten Erfolg. Sendak wurde 1928 als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren und starb 2012 in Danbury, Connecticut.

Ist die Hexe in Grimms Märchen eher eine Einzeltäterin, die Hänsel mästen und verspeisen will, so entführt sie in Humperdincks Opernversion gleich reihenweise Kinder. Das Libretto verfasste Humperdincks Schwester Adelheid Wette Anfang der 1890er-Jahre.

In seinem Vorwort schreibt Stephen King, dass ihn besonders Sendaks Zeichnung der Hexe, die auf einem Besen und mit einem Korb voller Kinder über die Lande fliegt, sehr fasziniert habe. Das Motiv zierte damals das Plakat der Opern-Inszenierung. Ebenso begeisterten King Sendaks Zeichnungen des berühmten Lebkuchenhauses, das in Sendaks Entwürfen durch ein aufgemaltes Gesicht selbst zu einer lebendigen, bedrohlichen Märchenfigur wird.

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind – fehlt

Stephen Kings Version des Märchens ist daher eine Mischung aus der Grimm’schen und Humperdinck’schen Fassung. King steht dazu, dass er sich bei der Nacherzählung gewisse Freiheit erlaubt hat, jedoch hat er aus der ohnehin schon gruselig-grausamen Vorlage keinen King-Horror werden lassen. King behält den berühmten Reim »Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?« bei, der von Lena Riebl in der deutschen Fassung korrekt zurückübertragen wurde (»Nibble, nibble, like a mouse, who is nibbling at my house?«). Den zweiten ikonischen Reim »Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!« gibt es in Kings Fassung nicht. Allerdings klingt die englische Version »Never mind, It is the wind« auch sehr banal.

»In gewisser Hinsicht«, schreibt King im Vorwort, »habe ich einen Großteil meines Lebens damit verbracht, über Kinder wie Hänsel und Gretel zu schreiben.« Man denkt dabei unweigerlich an »ES«, wo Kinder gegen das Böse kämpfen oder – gänzlich ohne einen Hänsel – an »Das Mädchen«, das sich im Wald verlief.

Coolerer Junge, noch bösere Frau

Besonders interessant an der Kingschen Fassung des Märchens sind die kleinen Veränderungen an den Figuren, und man fragt sich, wie bewusst King sie vorgenommen hat. Ist Hänsel oder Gretel der Held der Geschichte? Oder alle beide? Hänsel hat davon erfahren, dass die Eltern die Kinder im Wald aussetzen wollen, und er hat die geniale Idee mit den hellen Kieselsteinen, die die Kinder beim ersten Versuch zurückführen. Leider verschließt beim zweiten Mal die Mutter die Tür und der Notbehelf Brotkrumen scheitert bekanntermaßen daran, dass die Vögel sie auffressen. Gretel hingegen handelt mutig, indem sie die Hexe vor den Ofen lockt und sie hineinschubst, um danach Hänsel zu befreien. King hat Hänsel ein klein wenig cooler und stärker als im Original angelegt, doch als die Krumen gefressen wurden, ist es an Gretel, ihn zu trösten.

Noch etwas böser und gemeiner, als sie ohnehin schon ist, legt King die Mutter an, die bei ihm zur klischeehaft bösen Stiefmutter wird. Verweist sie bei den Grimms auf die Armut der Familie, um den Vater davon zu überzeugen, dass man die Kinder im Wald aussetzen müsse, ist das bei King nur vorgeschoben: »Für ihren Mann hatte sie ein Brot mit Marmelade bestrichen, für sich selbst eines dick mit Fleisch belegt.«

Bei King wird die Stiefmutter am Ende weggeschickt, bei den Grimms ist sie tot.

So könnte man noch mehr Textexegese betreiben, doch am Ende muss man feststellen, dass Kings Nacherzählung nicht origineller ist als das Original. Aber das wollte er wohl auch gar nicht.

Das Besondere an Stephen Kings Märchentext? Er ist von Stephen King! Die Fans werden begeistert sein. Und dann sind da ja noch die beeindruckenden Zeichnungen von Maurice Sendak. Für King-Fans gibt’s zudem Easter-Eggs. So bekommt die Hexe bei King den Namen Rhea vom Cöos, einer Figur aus seinem Dark-Tower-Zyklus.

Daher ist das Bilderbuch mehr ein Sammlerstück für King-Fans als ein Vorlesebuch für Kinder.

Stephen King; Maurice Sendak (Illustration): Hänsel und Gretel. Gebundene Ausgabe. 2025. Atlantis Kinderbuch ISBN/EAN: 9783715209272 20,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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