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Von gefundenen und gefälschten Zetteln

Absender unbekanntEin neues Hobby greift auch in Deutschland immer mehr um sich: das Sammeln von Zetteln mit Botschaften fremder Leute. Nachrichten, die man auf Gehsteigen findet, vielleicht vom Empfänger weggeworfen oder verloren. Hinweise auf Pinnwänden an Unis oder im Supermarkt. Kleine, oft hastig hinterlassene Botschaften, die für kurze Zeit einen Einblick in das Leben anderer Leute gewähren.

Nicht ganz unschuldig an dieser neuen Sammelleidenschaft ist ein Buch, das unlängst beim Verlag Kein & Aber erschienen ist. Es trägt den Titel »Absender unbekannt. Gefundene Zettel, Mitteilungen und Briefe«.

Das ganze Buch ist scheinbar voll von Originalfundstücken, die faximile-artig wiedergegeben sind. Zerknüllte Zettel wurden geglättet, viele tragen Flecken oder sind eingerissen.

Doch wenn man die daneben vermerkten Fundorte anschaut, dann stellt man irritiert fest, dass diese alle in den USA liegen. Und man fragt sich verwundert, warum man dort so viele Zettel in deutscher Sprache schreibt.

Und plötzlich wird einem klar, dass dies gar keine Originalzettel sind, sondern dass das Buch voll mit gut gemachten Fälschungen ist! Dann blättert man zurück und liest tatsächlich auf der Titelseite (und nicht auf dem Umschlag): Herausgegeben von Davy Rothbart. Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob.

Seit Jahren sammelt der Amerikaner Davy Rothbart bereits gefundene Liebesbriefe, Postkarten und Botschaften fremder Leute. Er veröffentlicht sie in Büchern, Zeitschriften und auf seiner Website. Er liest die besten Fundstücke auf Lesungen vor und war zu Gast bei David Letterman.

Nun also hat Kein & Aber einige Fundstücke ins Deutsche übersetzen lassen, um diese dann auch noch aufwändig nachzubauen. Unzählige Leute haben offenbar die deutschen Texte per Hand nachgeschrieben, man hat die Zettel dann mit Liebe zum Detail und Akribie zerknüllt und wieder geglättet, mit Schmutzflecken oder Abrisskanten versehen.

Ein aberwitziges Buchprojekt! Denn eigentlich leben die Fundstücke von ihrer Echtheit, von Schreibfehlern, hastig durchgestrichenen und korrigierten Wörtern, von merkwürdigen oder naiven Formulierungen. Was bleibt davon, wenn man sie übersetzt?

Und so richtig kann man sich dann nicht mehr über die Zettel amüsieren, die vorgeben echt zu sein, es aber doch nicht sind. Es ist, als würde man eine Ausstellung von Konrad Kujau besichtigen.

Ist denn diese Idee urheberrechtlich geschützt? Und gibt es denn niemanden in Deutschland, der solche Zettel sammelt?

Doch, den gibt es: es ist der Kein & Aber Verlag selbst! Der hat nämlich unter dem URL www.absender-unbekannt.de die Website zum Buch erstellt und ruft die deutschsprachigen Leser dazu auf, Fundstücke einzusenden. Viele davon sind bereits auf der Website zu sehen. Und sie sind weitaus besser als die gefälschten Originale. Denn die Schreibfehler, Schreibarten und Formulierungen und die oftmals merkwürdigen Anordnungen der Wörter gehören einfach dazu.

Also schicken Sie dem Verlag Ihre Fundstücke zu, damit bald ein Buch daraus wird, über das man sich wirklich freuen kann!

P.S.: Natürlich gibt es schon seit Jahren einen literarischen Zettelkasten im Web, nämlich den von Martin Auer. Ja, richtig, der Fahrer des Hurentaxis. Wobei: eigentlich ist es ja nicht sein Zettelkasten.

Davy Rothbart, Simone Jakob: Absender unbekannt. Gefundene Zettel, Mitteilungen und Briefe. Broschiert. Mai 2007. Kein & Aber. ISBN 3-03-695243-8. EUR 14,90 (Bestellen bei Amazon.de)

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4 Kommentare

  1. Danke für diesen Beitrag und den Hinweis auf die Seite. Zunächst fand ich die Idee des Buches auch sehr charmant, war aber ebenfalls enttäuscht als ich feststellen musste, dass es sich um nachgebaute Übersetzungen handelt.

    Die Homepage ist ganz hübsch gemacht, aber ich glaube, man verliert sie schnell aus den Augen. Ein Blog mit der Möglichkeit, diesen via RSS-Feed zu abonnieren, hätte ich als praktischere Lösung empfunden.

  2. Ich finde das Buch “i check the mail only when certain it has arrived” ziemlich kultig. Es ist “a collection of letters from people I didn’t know” from Andy Jenkins in den Jahren 1986-1984. Ja, das war damals als man noch richtige Briefe und Postkarten schrieb. Ach, wie vermisse ich diese Zeit! Als man sich noch voller Vorfreude auf den Weg zum Briefkasten machte. Und heute? Werbung, Flyer, Anzeigenmagazine die keiner braucht und die elektronische mailbox immer voller Spam. Schöne neue Welt.
    In das vorgestellte Buch habe ich kurz reingelesen. Originell ja. Aber die deutsche Übersetzung machts kaputt. Schade.

  3. book crossing ist auch sowas ähnliches.
    ich hab mir vorgenommen,in zeitschriften, die ich in cafes lese,
    ein post_it mit meiner mailaddi einzukleben und der bitte,
    mir was zurückzuschreiben,was sich auf den artikel bezieht,
    den das post_it meint.
    so eine art digitale flaschenpost.
    werner in wiener neustadt

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