StartseiteAlmtraumFolge 111 vom 21. Juli 2007

Folge 111 vom 21. Juli 2007

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Stefan fühlte die Leichtigkeit, mit der er Bettina umfasste und mit ihr davonschwebte. Sanft berührte er mit den Fingerspitzen ihr Gesicht, in sachten Bewegungen konzentrierte sich drängendes Verlangen bis zu dem Punkt, an dem er die Beherrschung verlieren würde.

Er breitete die Arme aus.

»Sieht aus, als wollten Sie fliegen«, bemerkte Bettina.

Der Absturz war schmerzhaft. Schlagartig trat ihm sein Identitätsproblem ins Bewusstsein, damit er nicht übermütig würde. Ohne Vergangenheit hatte er keine Zukunft, war seine Sorge. Ähnlich lautete Bettinas Weisheit, als sie ihn wegen seiner abendlichen Flucht vor die Hüttentür zur Rede gestellt hatte. Die Erinnerungen waren bisher geflossen, wie er sie im Gespräch brauchte, mehr nicht, aber zur Not konnte er mit diesem Zustand leben: Die Zeit würde die Lücken nach und nach auffüllen und dies umso schneller, wenn sich jemand fände, der ihm mit genügend Interesse zuhören würde.

»Wollen Sie heute noch auf die Karner Kalkspitze aufsteigen?«

»Nicht alles auf einmal«, wehrte Bettina lächelnd ab. »Wo ich auch bin, ich behalte gerne einen Grund, um wiederzukommen.«

»Ein sympathisches Prinzip«, sagte er, »es macht allerdings wehmütig. Ich bin in den letzten Jahren nicht weiter als bis hier in das Priachtal gekommen.«

»Ich dachte, Sie befänden sich bereits im Paradies.«

»Ja. Einerseits.«

»Das klingt nicht sehr überzeugend«, sagte Bettina. »Die Grenzen zwischen Paradies und Fluchtburg sind bei Ihnen verschwommen.«

»Paradies ist überall dort, wo man sich wohl fühlt und im Einklang mit sich und seinen Bedürfnissen lebt.«

»Bezeichnen Sie das dort wie Sie wollen, meinetwegen auch als ihr Refugium. Nur, ließe es sich denn irgendwo anders bequemer mit sich leben? Alles gehorcht meinen Regeln, keine Konflikte! Und warum? Weil kein anderer da ist! Sich regelmäßig zurückzuziehen ist in Ordnung, sich zu verkriechen eine andere Sache.«

»Halten Sie mir keine Bergpredigt«, murrte er.

Bettina überlegte einen Augenblick. »Sie sollten nicht alles so verbissen sehen wie die Pharisäer. Ich möchte Sie auch nicht verurteilen, damit ich nicht selbst verurteilt werde.«

Nach seiner Einschätzung hatte er nicht besonders geistreich ausgesehen, eine Freude für Bettina. Sie ließ sich allerdings nichts anmerken.

Von seitwärts tönte eine enttäuschte norddeutsche Stimme. »Wir sind leider nicht die ersten auf dem Gipfel.« Eine Gruppe von sechs Wanderern nahm vom Gipfel Besitz. Sie lobten die Aussicht und tauschten Erfahrungen über noch höhere Berge mit wesentlich anspruchsvollerem Anstieg aus.

Eine junge Frau in Kniebundhosen und Bergschuhen aus Wildleder bat Stefan um das Gipfelfoto. Sie legte den Arm um ihren Jungen. Stefan fragte das übliche Wo muss ich draufdrücken? und animierte ein Lächeln.

»Komm«, sagte Bettina, als er die Kamera zurückgegeben hatte, »es ist aus mit der besinnlichen Zweisamkeit.«

Sie hat die Führung übernommen, schoss es Stefan durch den Kopf.