StartseiteAlmtraumFolge 110 vom 20. Juli 2007

Folge 110 vom 20. Juli 2007

Der Ausblick verlor sich in der Ferne in Dunstschleiern.

»Sie haben nicht übertrieben«, sagte Bettina anerkennend. Artig trug sie sich in das Gipfelbuch ein und blätterte dann, ob sie einen Eintrag von ihm finden konnte.

»Unwahrscheinlich«, meinte er, »das Buch hält nicht lange vor. Der Priacher ist für routinierte Wanderer vom Tauernhöhenweg aus bequem zu erreichen. An manchen Tagen könnte man glauben, es fände hier oben eine Mitgliederversammlung des Alpenvereins statt.«

»Sie reden über den Gipfel, als ob es sich um irgendein Konsumgut handelt.«

»Von der Wirklichkeit ist dieser Vergleich nicht weit entfernt.« Er deutete nach rechts auf den tief unten liegenden Oberalmsee. Aus dieser Perspektive wurde der See zum Teil von einem Ausläufer der Karner Kalkspitze verdeckt. Auf einem hellen Strich, der sich Zickzack bergwärts schlängelte, lagen bunte Fleckchen. Das seien die Wanderer, zeigte er ihr und fragte, ob sie die Bewegung erkenne. Die Karawane ziehe auf den Berg.

»Sie möchten den Priacher für sich allein haben, nicht wahr?«

Stefan hielt den Blick beharrlich auf die gegenüber liegende Girpitschkarspitze gerichtet. »Gut, bezeichnen wir es als Mythos für einen Menschen, der im Flachland groß geworden ist. Umgekehrt könnte ich dem Lugleitner mit dem täglichen Stau auf der Autobahn zwischen Dortmund und Bochum schwerlich ein beglückendes Erlebnis vermitteln.«

»Warum gerade dort?«

»Ich bin in Bochum geboren. Hatte ich das nicht erwähnt?«

Bettina nickte. »Sie haben Nachrichtentechnik studiert und schreiben gerne, sind sensibel, suchen nach dem Sinnhaften und Ihrem Platz im Leben, letzteres mehr irrend.«

»Ist das alles, was Sie über mich wissen?«

Bettina betrachtete ihre Bergschuhe. »Die Naturverbundenheit benutzen Sie, damit sich die Sehnsucht in Ihrer trüben Wirklichkeit zurechtfindet.«

Zwei Schritte nach vorn brachten Stefan an den Rand des Gipfels, wo die glatte Fläche in den steilen Bogen abwärts mündete.

»Das ist keine Lösung«, hörte er Bettina sagen. Sie nahm seinen Arm und zog ihn behutsam zurück zum Gipfelkreuz. Ihre Geste erzeugte ein warmes, drängendes Gefühl.

»Dieses Gipfelkreuz ist in Ihrem Leben ein wichtiger Orientierungspunkt, den Sie festhalten sollten. Hier gibt es nichts, was Ihren Blick verstellen könnte.«

Festhalten, ja … Sie war das Gipfelkreuz.

»In Ordnung«, sagte er, »ich bin also oben.«

»Aus Ihrer Flachländer-Sicht betrachtet sind Sie ganz schön weit gekommen.«

»Danke für die Aufmunterung.« Im Zurücklehnen verlor er das Gleichgewicht und stürzte rücklings neben das Gipfelkreuz.

Bettina lachte lauthals los. Weil er die Situation nicht komisch fand, hielt sie sich die Hand vor den Mund.

»Anlehnen funktioniert auch nicht«, stellte er fest. »Wir sollten in unseren Gesprächen auf alles Sinnbildliche verzichten.«

»Sie nutzen Ihr Missgeschick, um mir wieder einmal auszuweichen.«

Stefan stand auf und rieb sich die linkeGesäßhälfte. »Eben am Rand, da hatte ich nicht die Absicht zu springen, wie Sie vielleicht geglaubt haben. Weil ich mich durchschaut fühlte, wollte ich aus dem Blickfeld treten. Ich – ich bitte Sie um Verzeihung. Ich möchte die Entführung ungeschehen machen und würde lieber einfach so mit Ihnen hier sitzen, obwohl – ein paar Worte der Entschuldigung können unmöglich genügen.«

»Nein«, antwortete Bettina, »aber es ist gut, dass Sie es endlich ausgesprochen haben.«