Anzeige
StartseiteTextkritikTextkritik: Ungewöhnlich sehr gut

Textkritik: Ungewöhnlich sehr gut

Jemand, der nicht weiß wo er ist. Die Standardsituation in jedem schlechten Thriller-Prolog. Wie man jedoch eine solche Situation erzählerisch hervorragend umsetzt, das zeigt der Text, den unser Textkritiker Malte Bremer diesmal bespricht und dem er ein großes Kompliment macht.

Im Zug nach Irgendwo

von Andrea Lutz
Textart: Prosa
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Der ICE verließ den Bahnhof und nahm Fahrt auf. Christiane schaute sich aufmerksam um. Ihr Umfeld kam ihr bekannt vor, wobei sie allerdings nicht wusste, wann und wie sie dort hingeraten war. »Egal, Otto kommt bestimmt gleich wieder«, murmelte sie vor sich hin, lehnte sich zurück und betrachtete zufrieden die vorbeiziehende Landschaft. Auf den ersten Blick wirkte Christiane elegant. Sie trug ein zeitloses Tweed-Kostüm im Coco-Chanel-Stil und hatte einen kleinen Hermès-Koffer vor sich auf dem Boden stehen. Erst der zweite Blick offenbarte ihre Füße, die in rosaroten Pantoffeln steckten.

Ungewöhnlich.

Das dachte sich auch der junge Mann, der eben geräuschvoll die Abteiltür öffnete, um seinen reservierten Platz einzunehmen. Mit einem freundlichen »Guten Morgen« grüßte er und hievte seinen Koffer auf das Gepäcknetz.

»Gut, dass du kommst, Otto«, sagte Christiane, ohne den Blick zu wenden. »Ich habe Hunger, lass uns in den Speisewagen gehen!« Der so Angesprochene zog es vor, erst mal nicht zu antworten, und setzte sich.

Christiane sprach weiter: »Mein Vater wird uns bestimmt mit seinem neuen Auto abholen. Es ist ein schwarzes Cabriolet, oder ist es grün? Ach, ich weiß nicht mehr so genau. Otto, hat Vater einen blauen Wagen?«

Michael – so hieß der junge Mann – merkte schnell, was mit Christiane los war. Sie erinnerte ihn sehr an seine verstorbene Großmutter, und so beschloss er, um die alte Dame nicht noch mehr zu verwirren, als Otto zu agieren: »Du hast recht, das Auto ist schwarz

Christiane nickte bestätigend. Sie hauchte die Fensterscheibe an und malte mit dem Zeigefinger kleine Herzchen, dann stand sie auf und schaute sich das Fenster sehr genau an. »Wo ist denn der Griff zum Öffnen?« murmelte sie vor sich hin.

»Es gibt keinen Griff.« sagte Michael. »Es gibt eine Klimaanlage.«

»Dann öffne bitte die Klimadings«, kam die Antwort. Michael stellte das Gebläse etwas höher. »Meinst du, der Zug kommt pünktlich in Königsberg an

Bevor Michael sich eine Antwort überlegt hatte, betrat ein Zugbegleiter das Abteil: »Die Fahrausweise bitte!« Michael zeigte seine Fahrkarte.

»Sie müssen in Hamburg-Altona umsteigen. Wir haben zwar knapp zehn Minuten Verspätung, aber ihren Anschlusszug erreichen Sie auf jeden Fall!«

Michael bedankte sich, machte eine Kopfbewegung in Richtung Christiane und sah den Zugbegleiter fragend an. Der bat ihn leise, mit auf den Gang zu kommen. Dort erklärte er Michael, was es mit seiner Mitreisenden auf sich hatte: »Die Dame im Abteil ist Frau Christiane Reimer. Ihr verstorbener Mann war ein höherer Beamter bei der früheren Bundesbahn. Die beiden sind anscheinend oft und gerne mit dem Zug gefahren. Frau Reimer ist, wie sie sicherlich bemerkt haben, dement. Alle paar Wochen genehmigt sie sich eine Bahnfahrt. Zum Glück nimmt sie fast immer denselben Zug. Wir wissen schon Bescheid und informieren das Heim, aus dem es ihr immer mal wieder gelingt auszubüchsen! Beim nächsten Halt warten schon die Mitarbeiter der Bahnhofsmission auf sie. Frau Reimer wird dann in den Gegenzug gesetzt, und die Kollegen kümmern sich um sie, bis zu ihrem Heimat-Bahnhof. Dort holt sie dann eine Betreuerin ab. Hat sie Ihnen schon gesagt, wohin sie heute reist?«

»Königsberg«, antwortet Michael lächelnd.

»Na prima!« Der Zugbegleiter öffnet die Abteiltür: »Nächster Halt: Königsberg!«

Christiane blickt erfreut auf: »Das ging aber schnell heute, Herr Schaffner! Bitte helfen Sie mir mit dem Gepäck

© 2017 by Andrea Lutz. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Kompliment: Großartig! Druckreif!

Die Kritik im Einzelnen

Vorbildlich gelungen ist dieser Anfang: Kein Aufwachen, kein Blick aus dem Fenster, sondern eine Person, die offenbar weiß, wo sie ist, aber nicht, wie sie dorthin geraten ist. Das ist spannend. zurück

Wechsel der Perspektive: Jetzt wundert sich der höfliche junge Mann über die rosaroten Pantoffeln. Zudem wird klar, dass die Handlung wohl in der Vergangenheit spielt, denn es gibt keine Gepäcknetze mehr, und die üblichen Koffer passen auch nicht mehr in diese schmalen Ablagen. zurück

Raffiniert: Zu Beginn hatte Charlotte vor sich hingemurmelt, dass Otto ja gleich komme – und folglich musste die neu angekommene Person dann Otto sein. Das weiß sie. Und deshalb musste sie auch nicht hinschauen. Dass der Angesprochene zunächst nicht reagiert, spricht für ihn und für sich: SO charakterisiert man Personen, nämlich durch ihre Handlungen, wozu auch die Sprache gehört. zurück

Es wird nicht gesagt, warum Christiane Michael an seine verstorbene Großmutter erinnert. Und das muss es auch nicht. Ich nehme an, dass spätestens ab jetzt alle Leserinnen und Lesern wissen, was Christianes Problem ist! Und spannend, denn wie löst sich das alles auf? zurück

Grandioser Schluss. Alles geklärt. Diesen Plot hätte frau&man auch ganz anders ausgestalten können – aber keinesfalls besser! Chapeau! zurück

© 2018 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.