Ist der Text, den sich Malte Bremer diesmal angesehen hat, nichts für Mädchen? Unser Textkritiker findet, es sei eine kleine, unprätentiöse Erzählung, der man sich gerne überlasse.
Nichts für Mädchen
Schmal und fremd liegt er vor ihr in diesem leicht verknitterten Weiß. Um den kantigen Kopf spannt sich papierne Haut. Seine Hand zittert leicht auf der Bettdecke, und es sieht aus, als schwebe sie ein klein wenig darüber. Alles Kräftige ist aus ihr gewichen. Einst war diese Hand ihr sicherer Ort. Sie erinnert sich an die gleichmäßig strömende Wärme, wenn Vater ihre Finger fest umschloss.
Es war ein klarer Wintertag. Sonntagvormittag. Im feinen Schnee, den die Sonne glitzern ließ, zwei Spuren: eine große, wie von Vater, daneben fünf kleinere Abdrücke. Die sind von einem Hund, erklärte er. Sie versuchte, ihre Füße in die großen Spuren zu setzen, gab aber nach wenigen Schritten auf, weil sie hüpfen musste. Vater ermahnte sie, ruhig zu gehen. Sie blinzelte in das Sonnenlicht und machte die Augen zu. Sie wusste, sie würde nicht stolpern.
Sie redeten nicht. Vater redete nie viel. Meist arbeitete er irgendetwas. Manchmal sprach er dabei; mit dem Werkstück, das sich beim Einspannen widerspenstig zeigte, mit der Maschine, wenn er einen falschen Ton hörte – er wusste immer, ob alles rund läuft – oder mit sich selbst über die Arbeitsgänge. Still saß er selten. Nur einmal lag er richtig im Bett. Sie hat das Wasser für die Wadenwickel geholt, die ihre Mutter dem Fiebernden immer wieder neu anlegte. Das mit den Wickeln übernahm sie später bei ihren Kindern. Es war das Bild von damals; sie wusste, was zu tun war.
An diesem Wintermorgen gingen sie in die Werkstatt, wie oft sonntags. In der Woche arbeitete Vater für die Kunden seiner Tischlerei, an den Wochenenden für die Familie: Einen Schrank für das Schlafzimmer, das Klappbett für sie, einen Rahmen für den großen Spiegel im Flur. Was gebraucht wurde, baute er. Man konnte sich darauf verlassen. Es gab immer noch etwas, das fehlte, und in den Familien fehlte viel in diesen 1950er Jahren.
Sie freute sich auf die Werkstatt, auf den frisch-würzigen Geruch des Holzes, allgegenwärtig, aber besonders intensiv, wenn Vater sägte oder hobelte. Dann stand sie schräg links oder rechts hinter ihm und kniff vor Anspannung die Augen zu Schlitzen. Wenn er die Grate mit der Hand schliff, sagte sie manchmal, dass sie das auch möchte. Aber er schüttelte stets den Kopf: Nichts für ein Mädchen.
Also wartete sie auf die schönen Ringelspäne und phantasierte, was sie wohl darstellen könnten. Manchmal nahm sie ein Abfallstück an die Nase, sog den würzigen Geruch mit einem langen Atemzug ein und wähnte sich im Wald, dessen Würze sie ebenso liebte. Im Herbst ging sie mit Vater oft in die Pilze. Sie kannte schon einige, und er lobte ihren Pilzblick. Seither liebte sie es, in die Schonungen zu kriechen, wo die besten wuchsen. Das konnten auch Mädchen. Nie hat sie ihm von ihren Prügeleien mit den Jungs aus der Straße erzählt. Einmal, als sie bei einem Streit spürte, dass ihre Körperkraft nicht reichen würde, hieb sie einem gleichaltrigen Jungen mit aller Kraft ihre Sandkastenschaufel mit der schmalen Seite auf den Hinterkopf. Blut quoll durch dessen dunkle Haare, der Junge schrie, sie erschrak heftig. Gleichzeitig freute sie sich ein klein wenig.
Auf den Spielplatz ging sie dann lange nicht mehr.
Jetzt hebt sie vorsichtig Vaters Kopf. Sie will ihm aus der Schnabeltasse zu trinken geben. Aber er presst die Lippen fest aufeinander. Dann murmelt er plötzlich etwas Unverständliches. Ob die Worte in seiner Welt wohl einen Sinn ergeben?
Sie legt seinen Kopf zurück auf das Kissen, respektiert die Energie, die er für sein Nein aufbringt. Dann sieht sie wieder auf die zitternde Hand, hebt in einem Impuls ihre Rechte und möchte seine Hand fest umschließen. Doch sie zögert, streicht nur über die Bettdecke und räuspert das aufkeimende Gefühl weg. Sie sieht lange auf den schon kahlen Baum vor dem Fenster, der knorrig nach dem niedrigen Novemberhimmel langt.
Plötzlich ein klarer Satz: »Ich will nicht mehr.«
Endlich kann sie es tun: Sie nimmt den schmalen Alten in den Arm und drückt ihn, fast zu kräftig. Gern möchte sie sagen ›Lass los!‹, aber sie schafft nur ein beruhigendes Summen.
Zusammenfassende Bewertung
Eine kleine, unprätentiöse Erzählung, der man sich gerne überlässt.
Kleinigkeiten stören – aber die sind schnell behoben. Schwerer wirkt, dass das Thema der Überschrift zu wenig vertieft wird.
Die Kritik im Einzelnen
Diese beiden Sätze würde ich streichen, denn sie enthalten ausschließlich Todes-Klischees (schmal, fremd, jemand liegt in einem Weiß, kantiger Kopf, papierne Haut)! Stattdessen sollte der folgende Satz mit Vaters Hand beginnen. zurück
Diese Adjektive sind überflüssig: Man fragt sich unwillkürlich, was denn eine ungleichmäßig strömende Wärme wäre? zurück
5 kleinere Abdrücke von 1 Hund? Vier von den Pfoten und 1 vom Schwanz oder der Schnauze? Ich kann es mir nicht erklären! Wären neben den großen einfach nur kleinere, wäre alles in Ordnung. zurück
Kürzer und damit besser wäre und schloss die Augen. zurück
Der Strichpunkt ist hier fehl am Platz: Ein Doppelpunkt wäre sinnvoller, denn es folgt eine Aufzählung von Vaters Gesprächpartnern – aber es ginge auch ohne jedes Satzzeichen an dieser Stelle. zurück
Auch dieser Satz kann komplett entfernt werden, denn er ist inhaltlich überflüssig: Das Wickeln hat die Ich-Erzählerin übernommen. zurück
Hier habe ich einen Doppelpunkt eingefügt, weil eine Aufzählung folgt. zurück
Ein Tischler baut nicht, der tischlert oder zimmert. zurück
Kleine sprachliche Vorschläge: Es fand sich immer was, denn es fehlte viel in diesen 1950er Jahren. Vor allem irritiert fehlte in den Familien, denn ein Bett fehlt nicht in der Familie (schließlich ist ein Bett kein Familienmitglied), sondern fehlt der Familie. zurück
Jetzt kommt der entscheidende Satz, der dem Text auch den Namen gab: Nichts für Mädchen. Das ehemalige Mädchen – also die Ich-Erzählerin – muss diesen Satz ja gehört haben. Hat ihr Vater diesen Satz schon häufiger gesagt, sodass dem Mädchen inzwischen ein Kopfschütteln genügt, um diesen Satz zu hören? Oder hat sie diesen Satz von anderen gehört und legt ihn jetzt ihrem Vater in den Mund?
Das ist hier die zentrale Stelle – und die bleibt bedauerlicher Weise unscharf. Denn immer wieder geht der Vater mit ihr sonntags in diese Werkstatt … zurück
Das ist zu ausführlich geraten: Wenn man an etwas riecht, hebt man es an die Nase oder nähert diese dem Gegenstand: Das ist dermaßen trivial, weil selbstverständlich, dass es nicht auch noch beschrieben werden muss! So ist auch die Erläuterung, dass sie beim Riechen Luft holt, nur noch albern, zumal hier nicht von einem tiefen Atemzug die Rede ist, sondern von einem langen – und letzterer muss nicht tief sein. Folgender Satz genügt vollauf:
Manchmal schnupperte sie an einem Abfallstück, sog den würzigen Geruch tief ein. zurück
Da wäre mit der Kante treffender. zurück
Dieser Satz war eigentlich der Schluss des vorangegangenen Abschnitts. Ich halte ihn aber für ihn so wichtig, dass ich ihm mehr Raum gab: Hier wird das schlechte Gewissen deutlich, denn Art der Auseinandersetzung war damals nichts für Mädchen. zurück
Ach, dieses heben und halten! Um süddeutschen Raum ist heben in der Umgangssprache (bzw. dem Dialekt: »Heb mol!«) gleichbedeutend mit dem hochdeutschen Festhalten, während das hochdeutsche heben (bzw, an- oder hochheben) lupfen heißt (»Lupf mol die Kischt!«). Um möglichen Missverständnissen zu entkommen, sollte der Satz heißen (ohne das überflüssige Jetzt): Vorsichtig hebt sie Vaters Kopf an. zurück
Auch dieser Satz lässt sich problemlos kürzen: Weg mit Dann und wieder sowie dem Impuls (steckt bereits im möchte) und ihre Rechte (es ist unwichtig, welche Hand sie verwendet): Was bleibt? Das bleibt: »Sie sieht auf die zitternde Hand und möchte sie fest umschließen.« zurück
Genau das war gerade im vorangegangenen Satz zu lesen: Wie wäre es mit betrachtete? zurück
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