Der Roman »Treue« von Hernan Diaz hat 2023 den Pulitzer-Preis erhalten. Ein vielschichtiger und durchdachter Roman. Man muss sich auf ihn in seiner Gänze und Schwere einlassen, nicht nur wegen des Fachjargons aus der Finanzwelt.
Treue? Vertrauen? Treuhandgesellschaft?
Der Lebenslauf von Hernan Diaz ist global geprägt: Der Autor wurde 1973 in Argentinien geboren, wuchs in Schweden auf und lebt nun in seiner Wahlheimat New York. Im Juli 2022 erschien sein zweiter Roman »Treue« bei Hanser Berlin auf Deutsch. Hannes Meyer hat das Werk aus dem Englischen übersetzt.
Der Originaltitel »Trust« wurde im Deutschen mit »Treue« übersetzt. »Trust« bedeutet zwar »Treue«, kann jedoch auch mit »Vertrauen« und »Treuhandgesellschaft« übersetzt werden. Man fragt sich, warum final »Treue« gewählt wurde. Die Treue zum Kapital, zum Ehegatten oder zur Wahrheit?
Auf dem knallgelbem Cover des gut 400 Seiten dicken Romans ist ein eingerollter Dollarschein zu sehen. Der Schatten fällt in das Titelwort hinein. Der Schein sagt mehr als der Titel über den Romaninhalt aus: Es geht ums Geld.
Abgeschlossen und dennoch verbunden
Wir befinden uns in der New Yorker Finanzwelt in den 1920er Jahren. Finanzmogul Benjamin Rask versteht es, sein Vermögen stetig zu mehren und unendlichen Reichtum anzuhäufen. Auch die Weltwirtschaftskrise 1929 nutzt er zu seinen Gunsten, und er hat die Macht, die Märkte zu beeinflussen. Seine intellektuelle Frau Helen tut sich als Wohltäterin und Mäzenin hervor, bis sie schwer erkrankt. Dies ist der erste von vier Teilen, in die der Roman unterteilt ist. Alle vier sind in sich abgeschlossen, hängen jedoch miteinander zusammen.
Der erste Teil »Verpflichtungen« des fiktiven Autors Harold Vanner ist ein Roman im Roman. Im zweiten Teil »Mein Leben« findet sich die fragmentarische Autobiographie von Andrew Bevel – er scheint die Inspiration für die Geschichte des Finanzmoguls Benjamin Rask aus dem ersten Teil gewesen zu sein. Der dritte Teil »Erinnerte Memoiren« ist die Geschichte der Ghostwriterin Ida Partenza, die von Andrew Bevel beauftragt wird, seine Autobiographie zu schreiben und zurechtzurücken, was ihm am Roman »Verpflichtungen« von Harold Vanner missfällt. Der vierte Teil »Vereinbarungen« ist das Tagebuch von Bevels Frau Mildred.
Eine Geschichte, verschiedene Perspektiven und am Schluss eine unerwartete Auflösung. Ein raffinierter Romanaufbau.
Bisweilen klobig und schwer
Alle vier Teile sind nicht nur inhaltlich durchdacht, sondern auch sprachlich und stilistisch unterschiedlich ausgearbeitet. Der SPIEGEL hat Hernan Diaz als »literarischen Perfektionisten« bezeichnet.
Doch gerade in den beiden ersten Teilen kommt die komplexe Sprache bisweilen klobig und schwer daher. Als Leserin oder Leser bekommt man alles andere als einen flüssigen Lesegenuss serviert. Ein Beispiel:
»Da sie oft innehalten musste, um Umschreibungen zu finden, mit denen sie grammatische Kluften und lexikalische Leerstellen umgehen konnte, wirkte sie, als hätte sie sich gebremst, als hätte sie ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Angst zurückgewonnen.«
Die sprachliche Schwere mag an der deutschen Übersetzung liegen. Was nicht dem Übersetzer anzulasten ist, sondern an der allgemeinen Unübertragbarkeit der Sprache liegt. Oder daran, dass das Englische hier die geeignetere Erzählsprache ist? Oder daran, dass das Deutsche schneller nominal wird und somit ungelenker und schwerer klingt als das Englische? Eine Sprache, in der die Hauptwörter nicht großgeschrieben werden und im Text weniger auffallen?
Auch die Beschreibungen des Lebens und der Finanzwelt ziehen sich anfangs ein wenig. Teil drei und vier lesen sich leichter und spannender. Die eigenen Stimmen der fiktiven Autorinnen heben sich auch in der deutschen Übersetzung besser ab.
Geld, Macht und die Rolle der Frauen
Es geht um Geld und Macht. Es geht um die Rolle der Frauen in einer männerdominierten Finanzwelt und um Emanzipation. Es geht um Geschichte und Geschichten. Und nicht zuletzt geht es um die Frage nach der Wahrheit.
In »Treue« finden sich philosophische Abhandlungen über Geld. Dies verwundert nicht, da Hernan Diaz an der New York University in Philosophie promovierte.
»Treue« von Hernan Diaz ist ein vielschichtiger, durchdachter und außergewöhnlicher Roman. Der Leser muss sich auf ihn in seiner Gänze und Schwere einlassen, nicht nur wegen des Fachjargons aus der Finanzwelt. Oder wie es der Autor selbst formuliert: »Ich hoffe, dass die Lesenden selbst auch zu Textdetektiven werden«.
Pulitzer-Preis 2023 in der Kategorie »Fiction«
Im Mai 2023 erhielt »Trust« gemeinsam mit »Demon Copperhead« von Barbara Kingsolver den Pulitzer-Preis in der Kategorie »Fiction«. In dieser Kategorie werden belletristische Werke ausgezeichnet, die sich mit der amerikanischen Lebenswirklichkeit beschäftigen. Die Jury schreibt zur Begründung: »Sowohl fesselnde Geschichte als auch brillantes literarisches Rätsel: Trust lässt den Leser auf die Suche nach der Wahrheit gehen, während er oder sie sich den Täuschungen stellt, die im Zentrum persönlicher Beziehungen existieren, der realitätsverzerrenden Kraft des Kapitals und der Leichtigkeit, mit der Macht die Fakten manipulieren kann.«
Eine verschachtelte Begründung, die Diaz selbst nicht hätte besser formulieren können.
Juliane Hartmann
Hernan Diaz; Hannes Meyer (Übersetzung): Treue: Roman I Pulitzer-Preis 2023. Gebundene Ausgabe. 2022. Hanser Berlin. ISBN/EAN: 9783446273757. 27,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Hernan Diaz; Hannes Meyer (Übersetzung): Treue: Roman - Pulitzer-Preis 2023. Taschenbuch. 2024. btb Verlag. ISBN/EAN: 9783442772001. 15,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel