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»Lektionen« von Ian McEwan: Ein ganzes Leben und drei Länder

Ian McEwan: Lektionen

Ian McEwans Roman »Lektionen« spielt zu weiten Teilen in Deutschland. Das »Haus der Geschichte« in Bonn erlebt Isa Tschierschke diesmal vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Lektüre. Historischen Erinnerungen sind mit der Lebensgeschichte des Engländers Roland Baines verknüpft. Oder ist es die von McEwan?

Ich hatte es für eine Übertreibung gehalten, was McEwan dem Guardian sagte: »Alles, was ich hatte, habe ich in dieses Buch fließen lassen«. Thematisch vielseitig, akribisch recherchiert und vor allem von beeindruckender Frequenz waren McEwans Bücher immer.

Seit ich 2006 »Saturday« geschenkt bekam, war Mc Ewan alle ein bis zwei Jahre mit einer Neuerscheinung da. In manchen Jahren konnte ich gar nicht so schnell lesen, wie er schrieb.

Extrem produktiv: McEwan lieferte in den letzten Jahrzehnten Bestseller wie am Fließband
Extrem produktiv: McEwan lieferte in den letzten Jahrzehnten Bestseller wie am Fließband

Aber »Lektionen« hat mehr als nur einen thematischen Fokus und zudem den Anspruch, ein ganzes Leben zu umspannen. Es ist ein monumentaler Rundumschlag auf mehreren Erzählebenen geworden. Eine davon ist die Bühne der Weltpolitik von der Kubakrise bis zu Mauerfall und Brexit.

Fotogalerie: Ian McEwan und die deutsche Geschichte

Ein ganzes Leben und drei Länder

Wenn Rolands Vater fragt: »Hauptstadt von Westdeutschland?«, antwortet der Kleine wie aus der Pistole geschossen: »Bonn«. Damit sind wir mittendrin im Nachkriegseuropa, das den Hintergrund für Rolands Lebensgeschichte bietet.

Bonn ist ein guter Ort, um »Lektionen« zu lesen. London wäre natürlich besser, aber London ist immer besser.

In Bonn gibt es immerhin das »Haus der Geschichte der Bundesrepublik«, und das deckt den deutsch-deutschen Hintergrund von »Lektionen« ab. Es bietet in angenehmer Wohnzimmer-Atmosphäre die wichtigsten Stationen meines eigenen Lebens-Soundtracks und in der Kantine gibt es Pichelsteiner Eintopf und Maultaschen. So kann ich wohlgenährt und in Ruhe die politischen Ereignisse Revue passieren lassen, die meine eigene Lebensgestaltung begleiteten. Wobei die aktuelle Berichterstattung dieser Tage immer noch eine Pointe draufsetzt.

Wir sind schon Geschichte

Denn ausgerechnet als ich bei McEwan von der »Wolke der Selbsttäuschung« lese, die sich im April 1986, nach Tschernobyl, über Europa legte, erteilt Greta Thunberg Robert Habeck eine Lektion in Sachen Nützlichkeit von Atomenergie. Die Selbsttäuschung der europäischen Regierungen bestand damals in dem Vorspiegeln von wahlweise »Alles halb so schlimm!« bis »Wir haben alles im Griff!« bis »Betrifft nur den Osten, nicht uns!«, als ob radioaktive Wolken sich um eiserne Vorhänge kümmern würden.

McEwan eröffnet mit diesem historischen Moment den Blick auf eine interessante Parallele zu Roland Baines eigenem Schwanken zwischen Ohnmacht, Selbstbetrug und Selbstbestimmung.

Als Tschernobyl passiert, ist er gerade von Alissa, Mutter seines wenige Monate alten Sohnes, sitzen gelassen worden und mit der Situation völlig überfordert. Nach einer (!) Woche ist die Wohnung Land unter und er am Ende seiner Kräfte. Er beginnt zu reflektieren, wann und warum er die Kontrolle über sein Leben verloren hat und stößt auf eine zentrale Erinnerung: den sexuellen Missbrauch durch eine Klavierlehrerin im Internat, der begann, als er elf Jahre alt war.

Psychogramm autoritärer Verhältnisse

Seine Frau Alissa, Tochter eines Deutschen und einer Engländerin, ist lange Zeit die Einzige, der er davon erzählt. Sie sagt über das Geschehene: »Diese Frau hat dein Gehirn neu verdrahtet.« Baines glaubt an diese Interpretation und folgerichtig macht er die Täterin lange Zeit verantwortlich für die Persönlichkeitsschwäche, die seine späteren Beziehungen zu Frauen behindert. Mit der Zeit erkennt er aber, dass diese Schwäche schon bestand, als er zum Opfer wurde. Sie ist das Ergebnis seiner Herkunft aus dem autoritären Mikrokosmos einer Militärfamilie.

Rolands Vater ist Major in der Royal Air Force. Seine sanfte, gutmütige Mutter hat »plötzliche Wutausbrüche« und so misstraut Roland schon früh seiner eigenen Wahrnehmung. Oft empfindet er sein inneres Erleben als »eine weitere verstörende Kollision mit dem Verhalten der Erwachsenen.«

Angst und Scham als Gegenspieler

Nach den unsittlichen Berührungen seiner Klavierlehrerin kommt er nicht auf die Idee, die anderen Jungs zu fragen, wie sie von ihr im Unterricht behandelt wurden. Er ahnt, dass die Lehrerin gezielt ihn für diese »Sonderbehandlung« ausgesucht hat und schämt sich. Wie es für autoritäre Zusammenhänge typisch ist, besteht Rolands Leistungsmotivation hauptsächlich in der Angst vor Eltern und Lehrern.

Als er einige Jahre später eine Liebesbeziehung mit der Klavierlehrerin eingeht, spielt er für sie »Round Midnight«, nicht wissend, dass sie Jazz nicht mag. Sie reagiert wütend, aber er begreift noch nicht, dass »sein Interesse für Jazz ihn ihrer Befehlsgewalt zu entziehen droht«. So wird »Round Midnight« im Buch zum Motiv für seinen Widerstand gegen ihre Kontrolle.

Wie weltpolitische Krisen auf uns wirken

Roland hat die Affäre aus eigenem Antrieb als 14-Jähriger angefangen, da während der Kubakrise die Bedrohung in der Luft lag, durch einen Atomschlag »pulverisiert« zu werden.

Als sie sich wieder begegnen, überrascht ihn nicht nur ihr unverhohlenes Einverständnis zum Sex, sondern auch ihre ungewöhnliche Sicht auf den aktuellen weltpolitischen Konflikt: »Beide sollten ihre Raketen abziehen. Stattdessen diese dummen, gefährlichen Spiele auf dem Meer. Jungs-Spiele.« Roland, der nur gelernt hat, John F. Kennedy als Heiligen zu verehren, ist fasziniert.

Widerstand – andeutungsweise

Das Motiv der Übergriffigkeit zieht sich durch Rolands Leben und bedroht seine Selbstbestimmung. Als seine Frau Alissa verschwindet, ist die Polizei misstrauisch und nimmt ohne seine Erlaubnis seine Aufzeichnungen und Kalendernotizen mit. Erst Jahre später bekommt er sein Eigentum auf Nachfrage zurück. Sein Widerstand gegen bedrohliche Instanzen gipfelt in seinen Grenzübertritten nach Ost-Berlin, bei denen er verbotene Medien schmuggelt, ein hohes eigenes Risiko eingeht und vor allem seine Ost-Berliner Freunde in Gefahr bringt.

Interessanterweise ähnelt Roland in seiner Halbherzigkeit Alissas Vater, Heinrich, der einst im Dunstkreis der »Weißen Rose« mit dem Widerstand gegen die Nazis in Berührung kam, aber nie wirklich zum aktiven Kern gehörte.

Gespür für deutsche Befindlichkeiten

Deutsche Kultur, Musik- und Kunstgeschichte prägen Rolands Leben und die Nennung dieser Einflüsse machen ihn zugleich dreidimensional und repräsentativ für seine Generation. Außerdem können die Leser davon ausgehen, dass sich hinter diesen Beispielen einige von McEwans eigenen Vorlieben verstecken. So besitzt Heinrich eine Original-Ausgabe des »Blaue-Reiter«-Almanach und eine Weile wohnt die Familie sogar, wie die wichtigsten Vertreter der Künstlervereinigung, in Murnau. Tochter Alissa sieht von ihrem Fenster aus auf den Staffelsee.

McEwan kennt sich gut aus mit deutscher Politik, hat ein Gefühl für die deutsche Parteienlandschaft und den Humor, diese in Szene zu setzen. In Alissas letztem Roman wird die Grünenpolitikerin Monika Kanzlerin: »Um die langsame Reduktion beim CO2 Ausstoß ihres Landes zu sichern und zugleich die mächtige Kohle-Lobby im Zaum zu halten, wird sie zur Befürworterin der Kernenergie. Die Partei hasst sie dafür, kann sie aber nicht loswerden.«

Umgekehrte Care-Verhältnisse als literarisches Experiment

Die stärksten gesellschaftskritischen Stellen im Text beschreiben die Anstrengung der undankbaren Care-Arbeit. In McEwans Versuchsanordnung ist es der junge Vater, der verlassen wird, weil seine Frau schreiben will. Während Alissas Mutter Jane sich und ihre literarischen Ambitionen mit der Hochzeit aufgegeben hat und Schwiegermutter Rosalind stumm unter den Schlägen des Majors leidet, rechnet Alissa in den Monaten nach der Geburt des Sohnes hoch, was ihr selbst in der Ehe mit Roland bevorsteht – und rennt ihm davon.

Alissa ist zwar eine Was-wäre-gewesen-wenn-Kunstfigur, aber sie demonstriert, dass wir keinesfalls in einer mit allen Möglichkeiten gesegneten freien Gesellschaft leben, in der jeder und jede frei ist, das zu entwickeln, wofür sie geboren wurde.

Der Bruch weiblicher Erwerbsbiografien, im Volksmund zärtlich »Babypause« genannt, dauert für westliche Ehefrauen gut und gerne zwanzig Jahre pro Kind. Aus der Perspektive einer zwanzig- bis dreißigjährigen aufstrebenden Künstlerin ist es kaum vorstellbar, dass sie nach der »Familienphase« noch Kraft für Kreativität hat, und 82 Jahre wie Annie Ernaux oder 94, wie Astrid Lindgren, muss man erstmal werden.

Die Bilanz des Lebens: Zwischen Neid und Genugtuung

Es gebührt Mc Ewan Anerkennung dafür, dass er an das Tabu rührt, dass Kinder in unserer Gesellschaft Karriere-Killer und ein Armutsrisiko sind. Und das eben auch für Männer, die keine Frau haben. Mit der Pistole »Existenzangst« auf der Brust ist Roland als Dichter und alleinerziehender Vater im Thatcher-bis-Johnson-England kaum wirklich freier und schon gar nicht zufriedener als die Männer Generationen zuvor.

Die übermenschliche (und ein bisschen unrealistisch scheinende) Härte, mit der sich Alissa gegen ihre eigenen Muttergefühle verbarrikadiert, ist der konsequente Preis für ihren Erfolg als Schriftstellerin.

Denkt Roland beim Titel von Alissas erstem Roman (»Die Reise«) noch »wie langweilig«, muss er sich im Laufe der nächtlichen Lektüre eingestehen, dass es ein sehr gutes Buch ist. Dass sie sich entwickelt hat, seit er ihre Romane abtippte, die von englischen Verlagen abgelehnt wurden. Und dass sie diesen Text, der ihren Durchbruch bedeutet, als Ehefrau an seiner Seite nie hätte schreiben können.

Jahrzehntelang sucht er sich fortan selbst in den Figuren ihrer Bücher. Im letzten Roman meint er auch, sich wiederzufinden und beschwert sich prompt darüber bei einem Treffen mit Alissa, die ihm daraufhin »beibringen muss, wie man einen Roman liest«. Noch einer weiteren Albernheit gibt sich Roland im Alter hin, nämlich dem Wettbewerb, wer unterm Strich das glücklichere Leben gehabt hat. »Würde er seine Familie gegen ihren Meter Bücher eintauschen?« Natürlich nicht.

Ein schwieriges Format: Roman oder Autofiktion?

»Lessons« als autofiktionales Gemisch lässt mich etwas ratlos zurück. Schreibt McEwan nun über sein Leben oder nicht? Damit macht er genau, was Alissa in ihrem letzten Roman macht: Fiktion und reale Erinnerung untrennbar zu verfilzen. Ich bin irritiert und ständig damit beschäftigt herauszufinden, wo die Linie zwischen »Auto-« und »Fiktion« verläuft. Dadurch kann ich mich nicht auf die Geschichte einlassen und finde sie künstlicher und konstruierter als sie es wahrscheinlich verdient.

Ich wünschte, McEwan hätte nicht nur einen »klugen Schmöker« geschrieben, wie Thea Dorn »Lektionen« im Literarischen Quartett nennt, sondern ein ehrliches Memoir. Vielleicht wollte er Rücksicht nehmen auf seine Umgebung, die noch Lebenden. Womöglich auf diejenigen, denen er »Lektionen« widmet? Die Orte von Rolands Kindheit gibt es wirklich, und die Schule ist die von McEwan: Woolverstone Hall in Ipswich. In den Danksagungen beeilt er sich deshalb zu betonen, dass es dort eine pädophile Klavierlehrerin, wie in »Lektionen«, nie gegeben hat. Alles nicht so ernst nehmen also?

Das letzte Buch? Niemals!

Ich habe es auch nicht so ernst genommen, als der Verlag sagte: »Vielleicht ist es sein letztes Buch«. Das ist sicherlich nur ein Marketing-Trick.

In dem Café, in dem ich die letzten Seiten lese, dudelt der Soundtrack der Achtziger: »Physical«, »The Day before you came«, »Flashdance« und Reklame für Reifen – ach ja, es wird Winter. Am Nebentisch tauschen zwei Frauen, etwa in meinem Alter, Rezepte für Pflaumenkuchen: »Du musst ein Stück Würfelzucker rantun, dann gibt’s mehr Saft. Hat meine Mutter auch immer gemacht«.

Ich versuche nicht hinzuhören und nehme mir vor, nächsten Sommer mal nach Murnau zu fahren und im Staffelsee zu schwimmen.

Isa Tschierschke
von der auch alle Fotos im Text stammen

Ian McEwan; Bernhard Robben (Übersetzung): Lektionen. Gebundene Ausgabe. 2022. Diogenes. ISBN/EAN: 9783257072136. 32,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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2 Kommentare

  1. Isa Tschierschke interagiert auf interessante Art mit der Lektüre. Das beginnt mit dem Ort ihrer Betrachtungen, das Museum für deutsche Geschichte in Bonn. Äußert sie gegen Ende Zweifel an der Qualität einiger Passagen, stellt sie gleichzeitig ihre eigene Bereitschaft infrage, sich auf den Text als solchen einzulassen, ohne detektivische Fragen nach autobiographischen bzw fiktionalen Elementen. Was natürlich viel über dieses Buch aussagt, sofern man sich mit der Biographie Ian McEvans beschäftigt hat.
    Auf jeden Fall macht sie neugierig auf das neue Werk des Vielschreibers.

  2. Immer mehr wird es zum beliebten Zeitvertreib der Literaturkritik (und der an Literatur interessierten Öffentlichkeit), hinter den Figuren eines Romans oder dem lyrischen Ich von Gedichten die verborgene Persönlichkeit des Autors, der Autorin aufzustöbern. Hat er/sie das Beschriebene tatsächlich so erlebt und empfunden, ist die geschilderte Begegnung tatsächlich so abgelaufen, war der erwähnte Ort tatsächlich der Schauplatz des berichteten Erlebnisses? “Wie es wirklich wahr” – so ein Satz macht neugierig, weckt und befriedigt unseren voyeuristischen Trieb, heute noch mehr als damals. Und die Autoren und Autorinnen der Gegenwart beteiligen sich lustvoll an diesem Spiel: sie überschwemmen uns geradezu mit Literatur, die unter dem Etikett des autofiktionalen Schreibens die Grenze zwischen Dichtung und Wirklichkeit immer mehr verwischt, um sie schließlich ganz aufzuheben. Oder vorgibt, sie aufzuheben, denn letzten Endes bleibt der Autor, die Autorin doch gewöhnlich Herr des Textes.

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