Red Dead Redemption 2 ist ein Western, der die Geschichte eines Niedergangs detaillierter erzählt als je ein Videospiel zuvor. Neue Formen des Erzählens finden sich eher dort als in elektronischen Büchern.
Bereits nach Erscheinen im Oktober 2018 wurde Red Dead Redemption 2 von vielen Spielern überschwänglich gelobt. Dabei konnten sie es in so kurzer Zeit unmöglich vollständig durchgespielt haben. Gut zwei Monate später – so zeigt es die Online-Trophäengalerie – haben nicht mal 20 Prozent der Spieler die ganze Geschichte abgeschlossen. Es wäre interessant, gäbe es solche Statistiken auch für Bücher.
Genre? Western! Videospiel? Auch.
Red Dead Redemption 2 ist ein Western, ein Genre, das hin und wieder auch auf dem Buchmarkt für Aufsehen sorgt. Im Bereich der Online-Spiele gab es immer wieder Western-Titel. Doch mit dem Vorgänger Red Dead Redemption setzte Rockstar-Games im Jahre 2010 Maßstäbe. Der US-amerikanische Software-Verleger wurde durch seine GTA-Reihe bekannt, die im Teil V mit beeindruckenden Mitteln das Erzählen von Geschichten auf eine neue Ebene brachte. Red Dead Redemption verlagerte das Prinzip der offenen und riesigen Spielewelt in den »Wilden Westen« um das Jahr 1900. Pferde statt Autos lautete die Devise. Hauptfigur war das ehemalige Bandenmitglied John Marston.
Das Western-Setting ist in Red Dead Redemption 2 (kurz RDR2) daher nicht neu, wohl aber beeindruckt die gesteigerte Detailtiefe des zweiten Teils. Das fängt bei der Landschaft an. Oftmals muss man sein Pferd zügeln und innehalten, um die atemberaubenden Eindrücke zu genießen: Sonne, Nebel, Regen, Tag und Nacht, das alles wirkt unglaublich echt. Wir sehen unsere Spuren im hüfthohen Tiefschnee und die Furchen der Kutschen im Matsch der Dorfstraßen. Das Offene-Welt-Prinzip wurde in zahlreichen Details verfeinert. Man kann Kräuter pflücken und Medizin herstellen, Tiere jagen, Spiele im Spiel spielen oder tagelang herumreiten, auf der Suche nach Menschen und Dingen. Man kann sich in ein Kino oder Varieté setzen und einer Bühnenshow mit Tänzern oder Feuerschluckern ansehen. Man kann zum Friseur gehen, denn in diesem Spiel wachsen sogar Bart- und Kopfhaare.
Geschichte eines Niedergangs: Was wird erzählt?
Die genaue Handlung von Red Dead Redemption 2 soll nicht gespoilert werden. Diese ist zeitlich vor Red Dead Redemption angesiedelt und spielt ebenfalls in den USA kurz vor 1900. Die Zeit der Revolverhelden geht dem Ende entgegen. Im typisch zynischen Humor der RDR- und GTA-Reihen entsteht die Zukunft des Landes in Form der Industriestadt Saint Denis, in der es bereits elektrische Straßenbahnen gibt – aber auch die unzähligen Schlote der Industrieanlagen, deren schwarzer Rauch den Himmel verdunkelt.
Red Dead Redemption 2 erzählt den Niedergang und Verfall der »Van-der-Linde-Gang«. Anders als in GTA V steuert man nur einen Hauptcharakter und kann nicht zwischen Figuren springen, wenngleich – so viel sei verraten – der Hauptcharakter einmal wechseln wird. Wir sind Arthur Morgan, Bandenmitglied bei Dutch van der Linde. Diese »Bande« ist fein gezeichnet, denn sie ist wie ein kleines umherziehendes Dorf. Hier gibt es nicht nur Revolvermänner, sondern auch eine Revolverfrau, weitere weibliche Mitglieder und sogar Kinder. Alle Mitglieder der Bande haben ihren eigenen Charakter: da gibt es den Koch und Schmied, den dem Alkohol zugeneigten Geistlichen, den Geldverleiher oder den Jäger und Fischer.
Die Figur des Arthur Morgan bleibt zunächst etwas blass, der Charakter und seine Vorgeschichte werden nicht allzu tief erzählt. Man erfährt von einer vergangenen Liebe, doch interessant und emotional aufgeladen wird die Figur erst nach der Mitte des Spiels, wenn Arthur eine Nachricht erhält, die sein Leben verändern wird.
Rein zufällige Nebenhandlung: Wie wird erzählt?
Read Dead Redemption arbeitet mit der üblichen Mechanik der Offene-Welt-Spiele: Im Grunde genommen kann man alles machen und sich frei bewegen, doch es gibt eine in sechs Kapitel gegliederte Haupthandlung, der ein längerer Epilog in zwei Teilen folgt.
Für die Story ist – wie bereits für den ersten Teil – Dan Houser verantwortlich, der sie zusammen mit Michael Unsworth und Rupert Humphries entwickelt hat. Das finale Drehbuch soll 2.000 Seiten umfasst haben.
Die Haupthandlung wird von unzähligen Nebengeschichten flankiert, die sich scheinbar zufällig ereignen. Es ist die Stärke des Spiels, wie diese Geschichten miteinander verwoben sind. Häufig trifft man Figuren, denen man helfen kann – oder auch nicht. Als Spieler bestimmt man selbst, wie gut oder schlecht man sein will. Man gewinnt an Ansehen, wenn man alle Menschen auf der Straße freundlich grüßt, oder wird beschimpft oder gar bedroht, wenn man andere anrempelt oder schlimmere Dinge macht. Hier beeindrucken Details und die Wiederaufnahme von Geschichten. Hilft man beispielsweise einem Mann aus einer Bärenfalle, so findet man ihn vielleicht später in einem Dorf wieder, und er bedankt sich überschwänglich.
Um die Handlung voranzutreiben und zu dramatisieren, bedienen sich Videospiele sogenannter »Cut-Scenes«, also vorgefertigter Videosequenzen, bei denen man als Spieler nicht weiter eingreifen kann. Diese sind mal mehr mal weniger gut in die vom Spieler selbst gesteuerten Passagen integriert, doch noch nie so perfekt wie in Red Dead Redemption 2. Da bei jedem Spieler Kleidung, Haarwuchs oder Wetterlage anders sein können, wenn die Handlung an einer gewissen Stelle angekommen ist, werden die Zwischenszenen in Echtzeit berechnet, sodass sie nie wie ein Fremdkörper wirken. Hinzu kommen Situationen, bei denen etwas geschieht, ohne dass man als Spieler die Kontrolle des Hauptcharakters aus den Händen geben muss. Die Balance zwischen Eigen- und Fremdkontrolle ist fein abgestimmt.
Dass das Vertrauen des eigenen Pferdes wächst, wenn man es regelmäßig striegelt und lobt, dass Waffen besser schießen, wenn man sie hin und wieder reinigt und pflegt, dass man in heißen Gegenden nicht zu warm angezogen und umgekehrt in den Schneeregionen nicht zu leicht bekleidet sein sollte, all diese unglaubliche Detailgenauigkeit und -versessenheit der Macher kann einen am Anfang des Spiels überfordern. Doch bald merkt man, dass sich das Spiel dem Spieler anpasst. Lässt man sich auf die Detailgenauigkeit ein, wird das Spiel detailreicher. Ist einem solcher Realismus eher lästig, so wird man feststellen, dass es auch das Spiel nicht mehr ganz so genau mit all diesen Details nimmt. Man kann Verbrechen begehen und lebt mit einer auf einen selbst ausgesetzten Belohnung, die Kopfgeldjäger auf den Plan ruft, man kann sich aber auch ehrenhafter benehmen und das Kopfgeld selbst an den Poststationen bezahlen, um ruhiger zu leben.
Überhaupt wird viel geritten. Einige Spieler sprechen von einer meditativen Ruhe im Sattel. Dass kilometerlange Strecken in Echtzeit zurückgelegt werden müssen, kann am Anfang nerven. Alternativ ist das Reisen mit der Bahn oder Postkutsche möglich. Doch im späteren Spielverlauf, wenn man eine Schnellreisefunktion freigeschaltet hat, merkt man plötzlich, dass man diese gar nicht einsetzt, weil man die Zeit im digitalen Sattel genießt und mit dem Vertrauen des Pferdes dessen Reitgeschwindigkeit wächst. Irgendwann beherrscht man sogar Tricks wie die Rutschbremsung oder das filmreife Aufbäumen des Tieres. Doch man wird nicht nur im Sattel verweilen, sondern bewegt sich wahrlich zu Lande, zu Wasser und zur Luft.
Hat man nach vielen Stunden den Abspann der Haupthandlung erreicht, sollte man diesen in keinem Fall abbrechen: Denn hier wird zwischen all den Namen der Beteiligten in kurzen Szenen die Geschichte bis zum ersten Teil von Red Dead Redemption aufgefĂĽllt.
Immer anders grĂĽĂźen: Dialoge und Musik
Haupthandlungstreibend und Hauptinformationsgeber sind die Dialoge des Spiels. Viel wird während des Reitens gesprochen. Charaktere begleiten einen aber auch zu Fuß und erzählen oder fordern Dinge. Man kann sich zu Versammlungen oder Gruppen stellen und zuhören, was sich die Menschen erzählen. Nie hat man in RDR2 den Eindruck, dass sich Ereignisse wiederholen oder man die immer gleichen Phrasen von den anderen Spielecharakteren zu hören bekommt. Selbst wenn man grüßend durch Saint Denis läuft, scheint jede Figur den Gruß anders zu erwidern. Folgt man bewusst oder zufällig einer Figur, so kann es sein, dass sich diese plötzlich umdreht und fragt, warum man ihr folge. Obwohl die Spieloberfläche komplett deutschsprachig ist, sind die Dialoge nur in der englischen Originalsprache zu hören. Gute deutsche Untertitel sind verfügbar. Die rund 500.000 Dialogzeilen wurden von insgesamt 700 Schauspielern eingesprochen, erzählte Dan Houser in einem Interview.
Selbst die Dialoge beim Reiten wurden von Rockstar-Games in zwei Varianten aufgenommen: Reitet man nebeneinander, so sprechen die Figuren in normalem Ton, wird die Entfernung zwischen den Pferden größer, beginnen die Personen zu schreien.
Während sich in anderen Spielen wie »Horizont Zero Dawn« die Charaktere allzu oft nur gegenüberstehen und ausufernde Dialoge absondern, die man irgendwann genervt überspringt, weil der Leeres-Gewäsch-Anteil zu hoch ist, sind in RDR2 die Dialoge filmreif inszeniert, die Sichtweise ist meist die der Filmkamera mit ihren Winkeln, Schwenks und Fahrten. Und noch etwas anders trägt maßgeblich dazu bei, dass man den Figuren des Spiels mit Vergnügen zuhört: Der Humor, die sarkastischen Sprüche. Arthur Morgans Sprache ist genauso lakonisch wie die von John Marston, der im zweiten Teil von Red Dead Redemption immer mehr aus dem Schatten der Nebenfigur heraustritt, um zu dem zu werden, der er im ersten Teil bereits gewesen ist. John Marston, so erfahren wir, ist ebenfalls Mitglied der Van-der-Linde-Gang.
Woody Jackson hat auch im zweiten Teil des Westerns die Musik komponiert. Diese fügt sich – wie überhaupt das geniale Sounddesign – harmonisch zur Handlung und verstärkt unterschwellig Emotionen, wie es auch gute Filmmusik leistet. Wie die Verzierungen auf der Torte wirken die Songs, zu denen oftmals durch die gewaltigen Landschaftspanoramen geritten sind.
Fazit: Einfach mal losreiten!
Die in Spielen erzählte Geschichte setzt sich im Grunde genommen aus Bausteinen zusammen. Dan Houser, seinen beiden Mitautoren und allen Beteiligten bei Rockstar Games ist es gelungen, diese Elemente perfekt zusammenzufügen, dass Kanten und Fugen nahezu verschwinden.
Zwar braucht es Zeit, bis man mit dem Hauptcharakter Arthur Morgan warm wird und sich unter dessen harter Schale dem Spieler seine Persönlichkeit offenbart, doch irgendwann will man nicht mehr aus dem Sattel steigen und einfach nur in den Sonnenaufgang reiten, reiten, reiten …
Für Xbox One: Red Dead Redemption 2 Standard Edition [Xbox One] Disk. Videospiel. Rockstar Games. ISBN/EAN: 5026555359009. 18,90 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige
Für PS4: Red Dead Redemption 2 Standard Edition [PlayStation 4] Disk. Videospiel. Rockstar Games. ISBN/EAN: 5026555423076. 19,99 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige
FĂĽr PC: (noch?) nicht verfĂĽgbar
Vielen Dank fĂĽr diese sehr gute Vorstellung dieses … Spiels. Ich nenne es mal so, weil es um seines VergnĂĽgens willen durchfochten wird, weil es eine kĂĽnstlerische Darbietung ist, weil man es als etwas leichtes ernst und als etwas ernstes leicht nehmen kann. Diese Art des Spiels schafft eine besondere Immersion, die sich zusehends zu einem Analogon unseres Lebens entwickelt, so, wie narrative Texte uns ermöglichen Leben zu leben, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten, mit dem Unterschied, dass unsere Mitgestaltungsmöglichkeiten in diesen Spielen erheblich weiter ausfallen.