Wellers Wahre Worte am Café Tisch
September 2002 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


»Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist«
Ein Experte für das »Creative Campaigning« von Edmund Stoiber plaudert aus dem Nähkästchen
Wilhelm Weller


1996 erschien in den USA der Enthüllungsroman »Mit aller Macht«. Er schilderte aus Insidersicht die überhitzte Atmosphäre des amerikanischen Wahlkampfs und seine Helden waren unschwer als Bill und Hillary Clinton erkennbar. Nicht erkennbar war lange Zeit, wer das Buch unter dem Pseudonym »Anonymous« geschrieben hatte. Schließlich outete sich Joe Klein als Autor, ein bekannter Korrespondent von Newsweek und CBS.
     Kein Coup von Klein sondern ein Glücksfall bescherte uns nun einen fast authentischen, intimen Einblick in die Wahlkampfmaschinerie des Unions-Kanzlerkandidaten Stoiber.
     Ein alter Freund arbeitete monatelang als Experte für »Creative Campaigning« bei einer Werbeagentur, die zusammen mit dem früheren Bild-Chefredakteur Michael Spreng den Wahlkampf für Edmund Stoiber steuert.
     Seinen Namen können wir nicht nennen. Wegen der an das amerikanische Vorbild erinnernden Brisanz heiße auch er einfach nur »Anonymus«. Seine uns unregelmäßig gesandten eMails fügen sich zwar nicht zu einem dichten Romanwerk im Stil von Joe Klein, doch besitzen die hier auszugsweise und erstmals publizierten Mitteilungen aus dem Innersten des Stoiberschen Kampagnen-Apparates auch in ihrer lakonischen Kürze durchaus literarische Würze.

21. 4. 02:
Streng vertraulich: Du wirst es nicht glauben, seit 2 Tagen mache ich Wahlkampf für Stoiber! Meine Agentur »Ernst & Fun« hat mich als Experte für »creative campaigning« in eine Abteilung versetzt, die mit Michael Spreng (Ex-BAMS) Stoiber in den Medien verkaufen soll. Das kann ja lustig werden :-; Meine letzte »prominente« (apolitische) Kampagne hatte ich für EM-TV geführt.

10. 5. 02
Habe mir noch mal auf Video den Auftritt von ES bei Christiansen angesehen (Äh Äh Äh na na na). Echt ein Debakel. Welche Idioten haben ihn so schlecht vorbereitet auf SC losgelassen?

18. 5. 02
Heute große Konferenz unter Vorsitz von Spreng. Alle aus der Abteilung dabei, außerdem ein Dutzend Externe. Es ging nochmals um ES bei SC. Spreng: »Das darf sich nicht wiederholen, oder die Sache ist gelaufen.«
     Hatte mich zu Wort gemeldet und einige Ideen vorgetragen. Spreng: »Sehr gut! Arbeiten Sie bis Ende Mai ein Konzept aus.«

2. 6. 02
Lebenszeichen. Steckte wochenlang über und über in Arbeit. Dutzende Reden und Fernsehinterviews auf Video angesehen. Psychologische und linguistische Fachbücher gewälzt.
     Statistische Untersuchungen. ES muss das »äh« abgewöhnt werden, derzeitige Worthäufigkeit liegt bei 0,2. Untragbar. Habe eine Liste von Ersatzwörtern und Ersatzfloskeln zusammengestellt ( »Ich denke«, »sehen Sie«, »genau so«, …). Morgen präsentiere ich Spreng meine Ergebnisse. Nervös.

3.6.02
Spreng war begeistert. Will mit ES intensives, logopädisches Training durchführen lassen, meine Liste Basis für das Training. Wahnsinn, ich präge die große Politik.

26. 6. 02
Lese gerade Handkes »Kaspar«: »Du hast einen Satz, den Du vom Anfang zum Ende und vom Ende zum Anfang sprechen kannst. Du hast einen Satz zum Bejahen und zum Verneinen. Du hast einen Satz zum Leugnen...mit dem du jede Unordnung zur Ordnung erklären kannst: dich selbst in Ordnung bringen kannst...« Kennt ES Kaspar? Bettlektüre! »Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist.« Genial.

8.7.02
Wieder große Konferenz unter Vorsitz von Spreng. Seine Bestandsaufnahme: ES bei öffentlichen Auftritten etwas sicherer, auch bei Frauen. Spreng lobt ausdrücklich meine Idee mit den Surrogat-»Ähs«. ES verwendet inzwischen einige meiner Füllfloskeln. (»Da kommt der fünfte Punkt und der sechste Punkt, kommen sicherlich die Fragen: gleichge-, nicht gleichgeschl-, sondern ob ich auch... ich denke... ich denke... Asylgründe schaffe außerhalb der politischen und der rassistischen Verfolgung, also auch Gründe… sehen Sie…«)
     Spreng dennoch unzufrieden. ES soll flüssiger sprechen, besser 2 logopädische Sitzungen pro Woche.

11.7. 02
Bei dem Besuch einer Hamlet-Aufführung kam mir DIE Idee, hörte wie ein Souffleur dem alten Quadflieg bei Aussetzern weiterhalf. Genau das bräuchte ES: einen »kleinen Mann im Ohr«, wenn mal die Worte fehlen. Technisch heute kein Problem. Wenn Friedhelm Busch bei n-tv vom Börsenparkett berichtet, hat er immer den Miniempfänger im linken Ohr. Muss bei ES nur so klein sein, dass es nicht auffällt.

13. 7. 02
Gestern mit Spreng telefoniert. War begeistert: »Warum kam vorher keiner auf die Idee?« Hofft, dass ES keine Schwierigkeiten macht, falsche Eitelkeit oder so. CDU vor SPD aber Schröder vor ES, das muss ihm zu denken geben.

22. 7. 02
ES wollte lange Bedenkzeit. Nun hat er zugestimmt! Bedingung: Es darf auf keinen Fall in die Öffentlichkeit dringen. Zum »Stoiber-Team« gehört jetzt auch die Logopädin. Insgesamt 9 Leute, die ihm notfalls per Hotline weiterhelfen.

15. 8. 02
Zum Heulen. Flut macht uns die Zahlen kaputt. Eine Katastrophe, bisher lief alles bestens, jetzt das. Schröder spielt sich als Macher auf. Warum hat sich keiner um das richtige Outfit von ES gekümmert? Lief im Anzug auf den Deichen herum. Will er untergehen?

24. 8. 02
Große Spannung in der Abteilung, morgen das erste TV-Duell. Wir haben unsern Job jedenfalls gemacht.

28.8.02
Gerade das Duell bei RTL/Sat1 gesehen. Miniempfänger funktioniert. Keine großen Patzer. Nur das Dauergrinsen stört. Wirkt zu künstlich.

29. 8. 02
Toy Story auf DVD gesehen. Computeranimation, das wärs! Der perfekte Stoiber. Muss wegen der Wahlwerbespots mit Spreng sprechen.

2. 9. 02
Die Idee mit der Toy Story lässt mich nicht mehr los. Programmierer hat die völlige Kontrolle. Das schafft keine Logopädin. Kein blödes Grinsen, keine linkischen Bewegungen, kein schiefer Hals, kein falsches Wort…

3. 9. 02
Mit Dreamworks Deutschland Kontakt aufgenommen. Mit ihrer Software wäre es eine Sache von 2 Tagen, Stoiber elektronisch nachzubilden und zu perfektionieren. Aber was bringt das für das zweite Duell? Vielleicht eine holographische Projektion wie in »Wild Palms« von Oliver Stone?

4. 9. 02
Alles Unsinn. Computeranimation oder Holographie. Wenn es dem Zuschauer nicht auffällt, dann Schröder und Illner und SC und dem Kamerateam. Das geht nur, wenn die mitmachen! Ich muss mit Machnig von der SPD sprechen, außerdem mit den Intendanten von ARD und ZDF.

4. 9. 02
Wenn Dreamworks Stoiber innerhalb von 2 Tagen digitalisieren kann, muss das auch mit Schröder, Christiansen und Illner möglich sein. Ich muss noch mal mit Dreamworks telefonieren.

5. 9. 02
Heute Morgen endlich mit Spreng telefoniert. Wollte ihm alles genau erklären. Ließ mich nicht ausreden, wurde laut. Hörer aufgeknallt. Ich glaub, der war nicht echt.

6. 9. 02
Wurde zum Abteilungsleiter gerufen. Wurde auch laut. Hat mir fristlos gekündigt. Fix und fertig. Arbeitslos.

8. 9. 02
Gerade das zweite Duell zwischen Schröder und Stoiber gesehen. Schröder siegt. Ich wusste es. Mit mir hätte Stoiber eine Chance gehabt. Sie wollten es ja nicht anders haben.

Wilhelm Weller

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