Wenn die Schüler hassen, und die Lehrer schmunzeln…
Ein Essay von Anant Kumar

PROLOG:

1.
Der Junge wollte bald sein Abitur in der Tasche haben. Er ging aufs Gymnasium. Er versuchte es ein Mal. Er versuchte es zwei Male. Beide Male wurde er aufgrund seiner Umstände ausgeschlossen: Die zwei Versuche scheiterten. Wir werden vielleicht nach und nach minutiös erfahren, ob Robert Steinhäuser in einzelnen Fächern sehr gut, gut, durchschnittlich, schlecht oder sehr schlecht war.
2.

Wie einige gute und schlechte Schüler & Schülerinnen der ganzen Welt hat auch Robert Steinhäuser Urkunden gefälscht und manipuliert. Und wie viele andere wurde er auch danach erwischt und folgerichtig bestraft. Vielleicht werden wir auch von jenen Gesprächen mehr hören, die zwischen dem Schüler Steinhäuser und dem Lehrerkollegium in dem zweijährigen Zeitraum stattfanden? Wir werden vielleicht auch wissen, mit welchem Nachdruck dem Schüler Steinhäuser Beratungen, Hilfestellungen und Unterstützungen angeboten wurden - gerade im Land der Psychologen, Psychotherapeuten und Supervisionäre...

3.

Ausschließlich und gezielt wurden die Lehrkräfte und eine Sekretärin der Schulverwaltung erschossen. Laut der Mediendarstellung kamen zwei Schüler zufällig auf der Mission »Ausrottung der Lehrer« ums Leben.

4.

Und ausgerechnet soll dieses Blutbad von einem »mutigen« Lehrer namens Heise gestoppt worden sein, indem er sich gezielt auf die humanitären Floskeln gestützt haben soll: »Du kannst mich erschießen, aber sieh mir dabei in die Augen!...«  oder »Robert, wir müssen darüber reden...« u. Ä.

5.

Definition eines Amokläufers: Das Wort »Amok« stammt von der malaiischen Vokabel »amuk« ab und meint ursprünglich einen seltenen, vorwiegend in tropischen Klimata auftretenden Affekt- und Verwirrtheitszustand. Der Kranke greife in dieser Periode des Bewegungsdrangs, während dem Amnesie bestehe, wahllos Menschen oder Tiere an und versuche sie zu töten, meist bis er selbst zusammenbreche oder getötet werde.

6.

Laut letzter Meldungen gebrauchte der Schütze seine Pump-Gun nicht, sondern nur seine Pistole. Die Tötungen erfolgten durch gezielte Kopfschüsse. Der Schütze war legal im Besitz der beiden Waffen.

An jenem sonnigen Nachmittag, als wir, Kinder der Intelligentia Motiharis, Cricket spielten, wurde vor unseren Augen ein Lehrer just verprügelt. Es geschah im Nu. Eines der spielenden Kinder kannte den Nachbaronkel. Der schrie mutig laut, zum Glück machten sich die Prügelnden davon, die Hilfe kam,... die Verletzungen waren nicht lebensgefährlich.
     Dass die Schüler Lehrer prügelten, kam in unserer Gegend nicht selten vor, insbesondere während der Prüfungen. Ja, die Prüfungszeiten waren die gefährlichste Saison. Die Prüfungszentren wurden von den Polizisten und Sicherheitskräften umlagert, damit das Abschreiben und die Hilfe von zahlreichen draußen stehenden Verwandten im Maße blieben.
     »Weg von dieser korrupten Gegend! Raus aus dem rückständigem Bihar!...«, lautete das Motto von uns, von den motivierten ehrgeizigen Schülern. »Nach Neu-Delhi! Nach anderen Orten, wo die Bildung besser und freier war.«  
     
Schon in der 8. Klasse hatte ich das große Privileg, Mitglied im einzigen und luxuriösen Schützenverein der Gegend, Motihari Rifles Club, zu werden. Natürlich, Dank meinem Vater, einem angesehenen Hochschullehrer. Die Sportart gefiel mir wegen der hohen geistigen Konzentration. Hinzu kam: Es stellte sich schon in den ersten Tagen heraus, dass der Junge ein begnadeter Schütze war. In der 9. Schulklasse stellte ich den Junior-Rekord in der Bezirksliga auf. Und in dem darauf folgenden Jahr holte ich auf der Landesebene Goldmedaille im KK-Gewehr. Die Waffen, Pistolen und Gewehre waren der Besitz des Rifles-Clubs. Wir, die Jungs und Mädels, durften sie unter strenger Aufsicht benutzen. Die Munitionen und ihre Hüllen wurden genau nachgezählt. Gut so! Natürlich werden die Leistungssportler und Profis der fortgeschrittenen Demokratien meinem Standpunkt widersprechen.
     Die progressiven Schüler der Bourgeoise waren sich einig, dass es in unserer rückständigen Stadt sehr wenige Möglichkeiten für die Jugend gab: Keine Infrastruktur für Sport und für andere Freizeitaktivitäten, keine Jugendzentren,... Das politische System war demokratisch und zugleicht korrupt. Die Gründe waren viele und sehr verworren. Somit konnte die Gewalt bei uns, das heißt »da unten«, besser gedeihen.
     Nach der zehnten Klasse verließ ich meine Heimat, und ich besuchte die nächsten Schuljahre in einer besseren Schule im Nachbarbundesland Uttar Pradesh. Die Unterschiede waren deutlich: Bessere Bildung, gute funktionierende Bibliothek, zahlreiche Sportarten, Studenten- und SchülerClubs. Das Phänomen, dass ein Lehrer beleidigt oder verprügelt wurde, kam in jenem Ort, auch »da unten«, sehr selten vor.

Neu-Delhi ist das Mekka der indischen Bildungshungrigen. Todglücklich wurde ich, als ich meine Abiturzulassung in der fremdsprachlichen Abteilung der Jawaharlal Nehru Universität erhielt. Das weltoffene europäisch angehauchte Centre of German Studies entsprach vollkommen meinem damaligen Bildungsideal: Die kompetenten Lehrer bereiteten sich auf den Unterricht gut vor, sie waren pünktlich, sie gaben uns Denkanstöße,... Eifrig voller Freude lernte ich in jenen Jahren und erzielte immer wieder die besten Noten. Jeder Klausurtag war eine Zeremonie.
     Dass es im Centre eine Machthierarchie gab, wurde mir nach und nach in späten Jahren bewusst. Die Macht wurde von den Institutstitanen, den Wissenskanonen, ausgeübt. Jene Professoren waren damals (Ende Achtziger/ Anfang Neunziger) noch marxistische Theoretiker, und heute sind sie liberale postkoloniale und -moderne Denker. Also, die richtigen Mitläufer. Es gab Gruppierungen, geheime Verschwörungen und FavouritInnen. Kurz gefasst: Nach einem gewissen Grad waren die Dialoge in der immer wachsenden Konkurrenz unter den gut ausgebildeten Akademikern begrenzt. Stattdessen übernahm die Macht die Regie.

Ich folgte meinen Bildungsweg linear, und indisch-europäisch aufgewachsen, kam ich nach Deutschland, um Philologie zu studieren. Das Schicksal verschlug mich in die Stadt der Lokomotive, wo ich jahrelang mit Genuss »Texte lesen« und »Texte verstehen« praktizierte. Und gleichfalls in dieser Stadt übte ich die ersten Lektionen des minutiösen Beobachtens und gründlichen Grübelns.
     Allerdings hege ich zu dem Fachbereich ein gespaltenes Verhältnis. Manche Professoren bereiteten sich auf ihre Vorlesungen und Seminare schlecht oder gar nicht vor. Nicht selten ließen sie eine Sitzung ausfallen. Das war uns, Studenten der lokomotiven Stadt, recht. Wir gingen in die Cafeterias und unterhielten uns über die Beziehungskrisen oder über die Partys.
     Es gab einen Professor X, der seine durch die früheren Bildungsanstrengungen erlangte Macht immer mehr ausüben wollten. Wenig Forschung und noch weniger Lehre. Stattdessen Beziehung im Nordhessen, im In- und im Ausland. Der intelligente Mann lobte meinen Eifer und meine Arbeiten übertrieben - öffentlich und privat - bis zu meinem ersten gesellschaftskritischen Lyrikband »Fremde Frau - Fremder Mann«. Er fand im Buch beleidigende Stellen. Na ja, das kam erst später. Vorher wurde ich zu seinem Literaturkolloquium eingeladen und im Verein der Forscher eingeweiht. Als werdendem Germanisten taten mir seine schleimende Worte sehr gut.
     Mit der Erwartung auf die beste Note entschied ich, meine Magisterarbeit bei meinem Papst zu schreiben. Ja, ich wollte sicher gehen: Der Geschmack der Note 1 hatte mich in den vergangenen Jahren ein wenig verwöhnt.
     Der Koloss konnte uns in unserem Literaturverein seine Macht uneingeschränkt enthüllen. Er hatte verwirrte Pläne und Ideen, die sich kaum realisieren ließen - wenn, dann zu einem Bruchteil. Es wurden Projekte vorgeschlagen, und wir durften ein wenig unseren Senf dazu geben. Redete der eine oder andere souveräner mal in seiner Naivität oder in der Ungewissheit, stoppte ihn der Titan abrupt: »Gut, das reicht. Wir brauchen darüber nicht mehr zu diskutieren!« Der Gemeinte, ein Doktorand oder ein nicht fest angestellter Uni-Dozent, hörte sofort auf, und er lachte rot mit den andren Schülern: Häh! Häh! Häh! Der Papst schmunzelte.

Die ersten Seiten meiner Magisterarbeit lagen wochenlang in der Schublade des Professor X - unberührt oder flüchtig überflogen. Er wiederholte sich und redete wirr in seinen Sprechstunden, in denen die Grazien bevorzugt vorgelassen wurden. Nach einigen Malen wollte ich, in die Nervosität geraten, seine Kommentare begründet haben. Mein Ton verunsicherte ihn ein wenig, und aus seinem Munde kam: »Herr Kumar, Sie haben als Ausländer eine sehr gute Arbeit geschrieben. Wir wollen das nur...« Der Kandidat ließ ihn nicht weiter ausreden und schrie ihn bellend an: »Herr Professor, was soll die ganze Scheiße. Meine Arbeit ist ein Ergebnis der deutschen Universität. Sie soll gleichberichtigt gelesen und gerecht benotet werden...«
     Danach war die Freundschaft zwischen dem Schmeichelnden und dem Geschmeichelten vorbei. Mit einem komischen Gefühl habe ich meine Arbeit bis zum Ende verfasst. In jener Phase gingen manche extremen Gedanken durch den Kopf des angehenden Germanisten: »Vielleicht werde ich diesen Tyrann doch erschießen! Und dann?... Dann habe ich weiter verloren... Für mich und für die anderen Ausländer der multikulturellen BRD!...«

EPILOG

Pothi Padh Padh Kar Jag Mua, Pandit Bhaya Na Koye
Dhai Aakhar Prem ke, Jo Padhe so Pandit Hoye

(Kabir, mystischer indischer Philosoph, 1398-1518)

Freie sinngemäße kontextuale Übersetzung: Durch Bücherbände wird einer nicht weise, sondern eher todmüde. Nur Derjenige, der das Wesen der »Liebe« begriffen hat, gelangt zur Weisheit

     Die Arbeit wurde abgegeben, und sie wurde benotet. »Nach unserem Krieg haben Sie eine 2 erhalten!« teilte mir der Professor distanziert mit. Ich war froh und traurig - zugleich.

 
Anant Kumar:
* Ende1969 in Katihar/Bihar/Indien, lebt und arbeitet in Kassel/Hessen

Buchveröffentlichungen: Fremde Frau - Fremder Mann (1997), Kasseler Texte (1998), Die Inderin (1999) und Die galoppierende Kuhherde (2001). »World Literature Today« schrieb über den Autor: «Kumar has certainly turned on its head the expectations one has of a non native German poet; in doing so, he has expanded the horizons of Ausländerliteratur”. Website: www.anant-kumar.de.vu

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