Wellers Wahre Worte am Café Tisch
Mai 2002 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


»Für heute reicht's, Herr Heise«
Verläuft bei der Terrorbekämpfung eine zweite Front quer durch bundesdeutsche Kinderzimmer?
Wilhelm Weller


Wieder einmal Tage, an denen sich Humor, auch der schwarze, verbietet. Als Satiriker muss man die Umschulung ins todernste Fach ins Auge fassen. Wenn das so weitergeht.
     Denken die Todesflieger, Suizidbomber und Amokläufer an die kulturellen Kollateralschäden ihrer Taten, daran dass Menschen wie Stefan Raab, Harald Schmidt, Anke Engelke, Ingolf Lück, Michael Mittermaier, Hella von Sinnen und wie sie noch alle heißen mögen, um ihre berufliche Existenz bangen müssen?
     Dumme Frage, natürlich denken Sie daran als Allerletztes, oder nein, sie wünschen ja, dass, wenn wir überhaupt noch etwas zum Lachen haben, uns das Lachen im Halse stecken bleibt.
     Aber keine Sorge: Wie sagte doch der damalige IOC-Präsident Avery Brundage nach dem Massaker während der Olympiade in München: »The games must go on«.
     Und so heißt für die Spaßmacher die Devise entsprechend: »The gags must go on.«
     Es braucht nur eine gewisse zeitliche Distanz, eine Schamfrist, wenige Tage, dann beginnt der oftmals preisverdächtige Leichenschmaus und die Verdauung des Unverdaulichen. Vorausgesetzt, wir selbst sind nicht betroffen, weder unmittelbar noch mittelbar. Das horrende Ereignis wird nicht nur politisch instrumentalisiert, sondern unter anderem auch humoristisch fermentiert. Humor ist eben, wenn man trotzdem lacht.
     Etwa über das gefälschte Foto, das einen jungen Touristen auf dem Dach des World Trade Center zeigt - und die entführte American Airlines im Anflug.
     Auch der Amoklauf des Robert Steinhäuser in Erfurt hat eine wahnwitzige Seite. Da besinnt sich der junge Mann nach seinem Massenmord wieder auf zivile Umgangformen und spricht seinen früheren Geschichtslehrer Heise korrekt an - als habe er nur einen Pennälerstreich verübt. »Für heute reicht's, Herr Heise«.
     Und Held Heise ist umgekehrt so höflich, dem Killer noch seine abgelegte Waffe zurückzugeben, bevor er ihn in einem Klassenzimmer einsperrt. Wenn der Geschichtslehrer die Geschichte, Auge in Auge mit dem Mörder, nur nicht (halb) erfunden hat, pulp fiction statt Heldentat.

Und wer hätte in Deutschland erwartet, dass nach dem Terroranschlag vom 11. September der nächste inländische Terroranschlag nicht von islamistischen Extremisten verübt würde, sondern von einem gescheiterten Gymnasiasten aus Thüringen? Der hatte seine militärische Grundausbildung statt in afghanischen Camps in örtlichen Schützenvereinen erhalten. Nur die Nutzung moderner Computerspiele verband den frustrierten Thüringer mit den fanatisierten Terroristen: Diese bereiteten sich mit dem Flugsimulator von Microsoft vor, während sich Robert Steinhäuser mit Counterstrike und Quake für sein Massaker einübte.
     Eine irritierende Vorstellung für viele Eltern, denen aus Kinderzimmern das Geballer von Computer- und Videospielen an die Ohren dringt. Lernt der Junge am Computer für die Schule oder für das Leben, oder agiert er eine latente Mordlust aus, trainiert er das Töten?
     Für Staatsschützer und Polizeibehörden eröffnet sich neben dem politisch-religiös motivierten Terrorismus quer durch bundesdeutsche Kinder- und Jugendzimmer eine zweite Front, die eine eigene Rasterfahndung nötig macht.
     Spielt der Sprössling Quake, Doom, Counterstrike oder Ähnliches? Ist er ein Fan von Schwarzeneggers Terminator und von düsteren Fäkal-Fascho-Bands? Kloppt er gerne zynische Nazi-Sprüche? Ist er ein verschlossener Schulversager? Denkt er bei Matrix eher an Massaker als an Mathematik?
     Wenn das und mehr zusammenkommt, müssten die Alarmglocken schrillen, vor allem für Eltern, die abends nicht sicher sind, ob ihr Junge schon schläft oder sich nur als Schläfer tarnt. Die beruhigende elterliche Gewissheit, dass sich der Nachwuchs beim gebannten Starren auf Bildschirmblutbäder nur auf zeitgemäße Weise »unterhält«, am Besten als Teil einer johlenden Gruppe gleich gesinnter Kids - hey, cool Mann, kuck mal wie die Eingeweide rausquellen - diese Gewissheit könnte einer gewissen Beunruhigung weichen.
     Zeit, dem Buben bei solchen Vergnügungen Einhalt zu gebieten: Für heute reichts, Robert!

PS: »Ein Amoklauf als Zeichen des Protestes wahrt sicher nicht mehr die Verhältnismäßigkeit der Mittel.« Dies war der letzte Satz in unserer letzten Kolumne. Wir möchten darauf hinweisen, dass der schockierende Amoklauf in Erfurt trotz einer unguten Ahnung auch für uns völlig überraschend geschah.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Wilhelm Weller

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Lesen Sie zu diesem Thema auch die folgenden Beiträge:

Morden mit Goethe, Hesse und Poe? - Johannes Näumann über den Einfluss der Medien und den politischen Aktionismus nach dem Erfurter Amoklauf. Mit einer Anmerkung über Teeny-Tränen.
Wenn die Schüler hassen, und die Lehrer schmunzeln… - Ein Essay von Anant Kumar.


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