Endstation Golgatha von Rupprecht Mayer |
Für den Eingeweihten hielt der Festkalender der Stadt durchaus Ereignisse von folkloristischem Interesse bereit, doch über sie berichtete kein Reiseführer, man war ganz auf die Hinweise von Ortskundigen angewiesen. M. hatte durch die Veranstalter seiner Dichterlesung von der traditionellen Karfreitagsfahrt der Büßertram erfahren. Nun wartete er geduldig im Schatten verfallender Häuser, in denen niemand zu wohnen schien. Schon gar nicht eine dieser schönen Frauen, von denen übrigens die meisten selbst bei der größten Hitze nicht ohne Handschuhe auf die Straße gingen. Nach fast einer Stunde hörte er in der Ferne das Rattern der Straßenbahn, die wegen der Steigung nur langsam vorankam. Sie bestand nur aus einem alten Triebwagen, an dessen Stirn ein provisorisches Holzschild mit der Aufschrift Golgatha befestigt war. Beim Einsteigen hielt M. dem Fahrer auf der flachen Hand ein paar Münzen der ihm fremden Währung hin, doch der nahm nichts von dem Geld, bedeutete ihm nur mit einer Kopfbewegung, nach hinten zu gehen. Er musterte die laut betenden Teilnehmer dieser Büßerfahrt, die dicht gedrängt in dem Wagen ohne Sitzplätze standen, jüngere und alte Menschen, Männer und Frauen. Wie konnte man beschreiben, was ihrem Blick lag? Eine seltsame Mischung aus Schmerz und Verzückung erschien M. adäquat. M. versuchte gerade, den scharfen Geruch einzuordnen, der den Wagen trotz der scheibenlosen Fenster erfüllte, als die Tram mit einem Ruck anfuhr. Er angelte nach einer Schlaufe, an der er sich festhalten konnte. Es gab jedoch keine Schlaufen, nur stählerne Henkel, eigentlich waren es Fleischerhaken, die an drei rostigen Eisenstangen hingen. Als der Ruck durch den Wagen ging, wurde das laute Summen, zu dem sich die Gebete der Büßer vereinten, von einem Aufschrei unterbrochen. Dann setzte das Summen wieder ein und übertönte sogar das Rattern der Räder auf dem grasbewachsenen Gleis, das vermutlich nur an diesem Tag des Jahres befahren wurde. Diese Menschen beteten ihren Rosenkranz nicht mechanisch wie die Ausflugswallfahrer in M.s Heimat, sondern voller Konzentration, mit Inbrunst. Wenn M. sich ihnen zuwandte, starrten sie ihn offen an, doch ihr Blick hatte nichts Feindseliges. M. überlegte, ob nicht Trance oder Entrückung der Sache näher kamen. Und ihm fiel ein, dass es wie auf Bennos Balkon roch. Benno wohnte im Schlachthofviertel. Dann entdeckte er neben sich das unwirklich schöne Mädchen mit den langen blauschwarzen Haaren. Er wusste sofort, dass sie es war. Er hatte immer gewusst, dass es sie gab, und dass er sie irgendwann treffen würde. Und nun passierte es in diesem fernen Land, dessen Sprache er nicht gelernt hatte, und sie war vielleicht siebzehn, kaum älter als seine Tochter. Er wusste, dass sie Dora hieß. Wenn nicht Dora, dann Magdalena. Und dass er sie, wenn nicht hier, dann in vier Jahren als Studentin im Ausland gefunden hätte, oder eben in zehn Jahren im Flugzeug oder auf einem Kongress. Sie hätte ihn dann genauso erkannt, wie sie es jetzt tat, als sie seinem Blick nicht auswich und ihm durch ihr Lächeln zu verstehen gab: Ich weiß, was du jetzt denkst, aber du musst es mir trotzdem später in Ruhe erzählen. Nach einer Ewigkeit wandte sie den Blick von ihm ab und sah durchs Frontfenster der Tram auf die Straße. M. folgte ihrem Blick. Ein Hund lag auf den Schienen und sonnte sich, alle Viere von sich gestreckt. Die Tram bremste übertrieben scharf ab, es war noch ein Abstand von zehn Metern. Die Büßer rutschten mit ihren Haltehaken ein Stück nach vorn, manche stießen aneinander, und M. wunderte sich über ihre Schreie, die das Quietschen des Fahrwerks übertönten, denn dem Hund drohte keine Gefahr. Und wenn schon: der Tod eines Tieres berührte die Menschen hierzulande nicht so sehr, sie hatten andere Sorgen. Auch Dora hatte geschrieen. Tränen standen in ihren Augen, und das Gebetbuch, das sie in ihrer nicht behandschuhten linken Hand gehalten hatte, lag am Boden. Anderen Büßern waren ebenso Dinge auf den Boden gefallen, aber seltsamerweise bückte sich niemand nach ihnen. M. hob Doras Gebetbuch auf und hielt es ihr hin. Doch sie griff nicht nach dem Buch, sondern nach seinem Unterarm, und sagte leise und stockend den Satz, den sie sich vorher zurechtgelegt haben musste: Come - with - you. Als M. das Gebetbuch wieder hinwarf, Doras Hand packte und sie durch die Vordertür aus dem Wagen ziehen wollte - die Tür hatte der Fahrer offen gelassen, der noch auf den Hund einredete - rief sie wait, wait!, doch die Umstehenden erwachten aus ihrer Trance, Entrückung und Verzückung, versetzten M. unter wilden Flüchen Fußtritte und stießen ihn mit ihren freien Händen von Dora weg und aus dem Wagen. M. hatte bemerkt, dass die Büßer selbst jetzt immer nur einen Arm benutzten und ihm auch nicht folgten. So fasste er den Mut, dicht an das offene Tramfenster heranzugehen. Dora streckte die linke Hand mit gespreizten Fingern zu ihm hin und schrie etwas, was er nicht verstand. Jetzt sah er das Blut, das an der Innenseite ihres hochgereckten rechten Arms herunterrann. Er brachte es nicht fertig hinzusehen, aber er wusste es. An den Fleischerhaken hielt man sich nicht fest, sie durchbohrten die Handteller dieser hingebungsvoll büßenden Menschen und verschafften ihnen so Anteil an Christi Schmerzen. M. stand mit dem Hund am Straßenrand und sah der Trambahn nach, der ein Sanitätswagen mit fast abgeblättertem roten Kreuz folgte. Er war ihm bisher nicht aufgefallen. Als die Tram und das Auto in der Ferne verschwunden waren, blickte ihn das große Tier mit seinen altersweisen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. M. verstand, was der Hund ihm sagen wollte: Du wirst Dora wiedersehen, und dann wird sie Handschuhe tragen. |
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