Mit Christine in der Kirche
von Rupprecht Mayer

Mit Christine konnte man wirklich keine Kirchen besichtigen. Er versuchte sie im Auge zu behalten, wenn er seine Flügelaltäre studierte, aber es passierte immer wieder. Eine Bodenplatte lag dann herausgelöst herum oder ein großer Mauerstein, von Christine keine Spur. Mit ihren langen Fingernägeln, die ebenso stark waren wie ihr historisches Interesse, prüfte sie alle Fugen und Ritzen und fand ihren Weg. Er versteckte sich dann in einem Beichtstuhl (sie hätte da hineingehört) und rief sie leise über Handy an. Wenn es eine Verbindung gab, konnte er an der Akustik erkennen, ob sie wieder eine vergessene Wendeltreppe entdeckt hatte oder eine Krypta oder ob sie im Turm herumkletterte. Eigentlich war er sich sicher, dass sie nichts beschädigte. Trotzdem warf er einen Blick zurück, wenn sie nach Stunden die Kirche verließen, um sich zu vergewissern, dass zumindest das Äußere von Turm und Fassade unversehrt war. Dass bei einem süddeutschen Dom ein Turm einen Meter höher war als der andere, hatte nichts mit Christine zu tun. Das war vor ihrer Zeit. Abends dauerte es dann, bis der Jahrhundertstaub aus ihrem Haar gewaschen war. Wenn sie eine Krypta gefunden hatte - das war für sie der Höhepunkt - fragte er sie nicht nach den toten Bischöfen. Er deckte sie nur besonders gut zu und maß, wenn sie eingeschlafen war, vorsichtig ihre Temperatur.

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