Die Nörgelei am Café-Tisch
März 1999 - Diesmal von Katharina Körting


Schrei in der Nacht
Katharina Körting gestern Abend wollte ich - ziemlich früh - einschlafen. Das Fenster war auf, der Wind rauschte in den Bäumen, in der Ferne gurkten beruhigend die Autos durch die Gegend, von Häuserfronten sanft gedämpft. Als ich gerade dabei war, so angenehm wegzusacken, hörte ich durch das Fenster einen sehr lauten Schrei; den Schrei einer Frau, ohne Text, nur voll Angst. Das kann kein gespielter Schrei gewesen sein.
     Dann brüllte ein Mann etwas.
     Ich wartete. Kam noch mehr? Überlegte, wo das genau war: oben? unten? im Hof? in einer Wohnung?
     Ich fragte mich, was ich tun sollte.
     Ist es nicht albern, die Polizei zu rufen, wegen eines Schreis?
     Ich machte mich doch lächerlich! Oder?
     Will ich mich da überhaupt einmischen? Wie fände ich es, wenn bei lauteren Auseinandersetzungen die Polizei vor der Tür stünde? Aber so schreit man nicht einfach so bei harmlosem - wenn auch lästigem - Streit!
     Vielleicht holte ein anderer die Polizei. Ich wartete. Nichts passierte, der Wind rauschte in den Bäumen, als wenn nichts gewesen wäre!
     Wieso, verdammt, kümmerte sich nicht ein anderer!
     Ich wäre gern erst mal gucken gegangen, ängstlich-heldenhaft, aber das musste ich verwerfen: meine Kinder sind noch so klein, die konnte ich nicht allein in der Wohnung lassen.
     Ich wollte jemanden anrufen, damit er mir sagt, was zu tun wäre.
     Auch diese Reaktion wurde verworfen.
     Dann überlegte ich, wie ich mich fühlen würde, wenn ich die nächsten Tage entsprechende Polizeiberichte in der Zeitung lesen würde: »in der Straße xy im Bezirk z wurde eine stark verstümmelte tote Frau gefunden…« Und ich hätte etwas machen können!
     Ganz weit weg erklangen Sirenen.
     Meinen Kopf überrannten die Bilder von abgestochenen blutigen Frauen.
     Bildete ich mir das alles ein? Habe ich überhaupt was gehört?
     Dann erklang eine Kinderstimme, die flehte, ängstlich und laut: nein, nein!
     Da sprang ich auf und wählte 110.
     Ich muss wohl ein bisschen gestammelt haben: »Ich weiß nicht, ob ich das Rechte, äh, Richtige tue, aber, wissen Sie, da hat jemand geschrien!«
     Der Polizist am Telefon war sehr freundlich und präzise, wollte die genaue Anschrift und meine Telefonnummer, und sagte, sie schickten gleich einen Wagen vorbei. Kurz darauf klingelte es bei mir. Im Nachthemd empfing ich die Uniformierten und erklärte, wo ich was gehört hätte. Der Jungsche riss, voller Aktionismus, mein Schlafzimmerfenster auf und schaute hinaus. Aber da war natürlich nichts zu sehen. Der andere sah aus, als hätte er lieber zuerst seinen Kaffee ausgetrunken, und als ob er mir nicht so recht glaubte - man kennt das ja: Damen, die sich wichtig machen wollen. Ich quasselte viel zu viel: »Vielleicht auch ein harmloser Ehestreit? Vielleicht auch im Haus nebenan und nicht gegenüber? Was ist mit dem Kind? Das Tor ist sicher zu, kommen Sie da überhaupt rein?« Der Jungsche äußerte sich skeptisch, ob sie da was machen könnten. »Wenn es in einer Wohnung ist…« Ich stellte mir vor, wie sie überall klingelten und nach schreienden Frauen fragten, reinstürzten, die Wohnung durchsuchten - aber das ging natürlich nicht. (Wieso eigentlich nicht? Warum habe ich nicht mehr gedrängt…?)
     Die Polizisten versicherten, dass sie noch mal nachschauen wollten. Ich fragte noch, versunsichert: »Besser zehnmal zu viel als einmal zu wenig, oder?« Der Jungsche stimmte mir wohl wollend zu.
     Ich legte mich hin, hörte ihre Walkie-Talkies knistern, wartete, ob sie die Leiche fanden (ja, ich lese zu viele Krimis!), malte mir aus, wie sie mich holen könnten, um mich genauer zu befragen zum Zeitpunkt des Schreis und dergleichen, wartete auf das Team der Leichenuntersucher, Fotografen, versuchte, mich daran zu hindern zu hoffen, dass sie tatsächlich etwas fanden. Ich wollte doch etwa nicht, dass da eine Leiche war, oder???
     Ich ertappte mich dabei, wie mich der Jagdtrieb überkam: ich wollte - sie sollten! - den Scheißkerl fassen, verdammt! Dann dachte ich wieder, dass, wenn sie tot ist, oder verletzt, sie ja wohl erstmal das Wichtigste sei - und wenn der Mörder nach Brasilien fliegt: Rettet sie! Kümmert euch! schrie ich stumm. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich nicht genug drauf bestanden habe, dass da wirklich was war, sondern mich stattdessen selber in meiner Wahrnehmung angezweifelt habe: was ich höre, höre ich ja wohl noch! (Andererseits: wer will das immer wissen…?)
     Schließlich merkte ich, wie ich zitterte, ein bisschen geschockt wohl, und es war kalt. Ich schloss das Fenster und wollte mich so gerne wie eine tolle verantwortungsvolle Bürgerin zu fühlen. Ein bisschen ist mir das auch gelungen. Aber der selbstgerechte, hilflose Ärger über die andern überwog, über die, die näher dran waren und genauer Bescheid hätten sagen können und es nicht gemacht haben. Da waren ganz viele helle Fenster! Und ich stöhnte mich über mich selbst, dass ich nicht gleich, als ich den Schrei gehört hatte, zum Telefon griff, sondern gewartet habe, bis fast nichts mehr zu hören war.
     Oder ist Selbstgerechtigkeit die Haupteigenschaft der tollen verantwortungsvollen Bürger?
     Ist Handeln nur zwingend, wenn es ein mögliches, aus vorgestelltem Nichthandeln resultierendes Schuldgefühl hinterher verhindert? Fällt 110 wählen überhaupt unter handeln?
     In der Nacht hatte ich ziemlich heftige Albträume.

Katharina Körting


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