StartseiteLiterarisches LebenHermann Mensing in Wien: Pop Life am Zentralfriedhof

Hermann Mensing in Wien: Pop Life am Zentralfriedhof

Leselokation in WienDer Autor Hermann Mensing ist auf Lesetour mit seinem neuen Roman ยปPop Lifeยซ. Unlรคngst war er in Leipzig und jetzt war er in Wien. Hier sein neuer Reisebericht:

Wien bockt, als die zweimotorige Turboprop anfliegt.
Wien hรผllt sich in Wolken, Wien schickt Turbulenzen, aber das Flugzeug tanzt sie aus. Selbst die letzten, von rechts kommenden, die versuchen, den Touchdown in einen Crash zu verwandeln, pariert sie geschickt, dann ist man am Boden und atmet tief durch.

Ein schรถner Tod hรคtte das werden kรถnnen, man wรคre gewiss keine schรถne Leiche gewesen, aber bis zum Zentralfriedhof hรคtte man es nicht weit gehabt. StandesgemรครŸ hรคtte man sich eingefรผgt in die unรผberschaubaren Reihen der todesverliebten Wiener, die es schwarz mรถgen, weil sie sich nicht lieben und den Zerfall der Donaumonarchie nicht verwinden.

Am Abend erfรคhrt der Schriftsteller M. Erstaunliches.

Nicht die Deutschen sind schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sondern ein รถsterreichischer Aristokrat, der dem Erzherzog Franz Ferdinand damals sein Automobil lieh, auf dass er durch Sarajevo fahren kรถnne, was bekanntermaรŸen dazu fรผhrte, dass man ihn erschoss und das Schlamassel begann.

Wieso er das erfuhr?

Den Nachfahren dieses aristokratischen Autoverleihers gehรถrt das Gebรคude, in dem heute die รถsterreichische Gesellschaft fรผr Literatur residiert. Sothebys ist ebenfalls Mieter. Das รถsterreichische Innenministerium ist gleich nebenan.

Die Adresse sagt viel: Herrengasse.

Wer logisch gedacht hat, weiรŸ jetzt, dass Automobile nichts Gutes sind und dass vielleicht alles ganz anders gekommen wรคre, hรคtte dieser Aristokrat seine Karosse nicht verliehen.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Schriftsteller M., gerade gelandet, verschwindet in der B-Ebene und erreicht mit dem CAT seine Destination. Er ist nicht allein. Er muss sich also nicht fรผrchten.

Nachmittags erforscht er den Ort seines abendlichen Auftrittes und ist schwer enttรคuscht. Er hatte geglaubt, ringsum mรผssten Plakate kleben, er hatte erwartet, die ร–sterreichische Gesellschaft fรผr Literatur, seit 1961 in diesem Palais residierend, kรผnde sich groรŸartig an, aber nichts da, das verblichene Messingschild wird erst nach lรคngerem Suchen im Hinterhof entdeckt und die Tรผr ins Gebรคude ist alt, ihr Lack blรคttert, das alles erzeugt Wehmut.

Was tun?

Selbstmord scheidet aus, das รผberlรคsst er dem Wiener, der – die Statistiken beweisen es -, als ร–sterreicher die Selbstmordstatistik der Welt anfรผhrt, zumindest aber auf Platz 2 hinter den Finnen residiert, so genau weiรŸ es der Schriftsteller M. nicht, aber das ist auch nicht so wichtig.

Essen wรคre nicht schlecht, denn so ein Flug ist immer ein Abenteuer.
Als er das Flugzeug sah, das ihn in diese Metropole fliegen sollte, hatte er die aufkommende Angst seiner Frau gespรผrt, die wohl glaubte, ein kleines Flugzeug sei weniger sicher als ein groรŸes, was natรผrlich ein Irrtum ist. Kein Flugzeug ist sicher, kein Tag bietet irgendeine Garantie fรผr das รœberleben, insofern ist es egal, ob man fliegt, geht, Rad fรคhrt oder sonst etwas tut, das Damoklesschwert hรคngt immer und รผberall.

Die beiden schlendern durch den ersten Bezirk. Das Diglas Cafรฉ macht einen Vertrauen erweckenden Eindruck. Sie kehren ein. Er isst eine Kรผrbiss-Tomatensuppe, gefolgt von einer Raviolivariation mit Blattspinat-, Schafskรคse- und roter Rรผbenfรผlle, dazu Rรคucherkรคse, sie isst Tafelspitz, gefolgt von einem Scheiterhaufen mit Schnee.

Wien, Wien, nur du allein, heiรŸt es.

Es ist frisch, aber die angekรผndigte heilige Dreifaltigkeit aus Regen, Hagel und Schnee bleibt aus. Stattdessen Rudel von Russen und italienischen Halbwรผchsigen, die von Sehenswรผrdigkeit zu Sehenswรผrdigkeit hasten.

Der Schriftsteller M. und seine Frau hasten nicht. So dumm sind sie nicht. Sie sind ein eingespieltes Team, sie haben vier Augen und berichten einander. Hast du die gesehen? Schau, da, der. So viele ร–sterreicher auf einen Haufen, das ist hart, da hilft nur eine Melange.

M. steht noch ein wenig unter dem verstรถrenden Eindruck der jungen Russin an der Rezeption seiner Pension, die, weil sie lieber telefoniert, statt frischen Kaffee zu brรผhen, ihre Pensionsgรคste mit freimรผtig zu Schau gestellten melonengroรŸen Brรผsten abzulenken versucht.

Beim Flanieren fรคllt auf, dass jedes Wiener Cafรฉ Wert darauf legt, zumindest einen Schriftsteller als Stammgast fรผr sich zu reklamieren. Man hรคngt einfach ein Foto des Betreffenden in die Auslage. M. รผberlegt, welches Cafรฉ seines sein kรถnnte. Er wird das spรคter entscheiden, posthum.

Jetzt aber fรคllt der Abend รผber die Stadt, eine halbe Stunde frรผher als im Westen Westfalens. M. und seine Frau machen sich auf den Weg zum Palais der ร–sterreichischen Gesellschaft fรผr Literatur.

AuรŸer M. liest eine weitere Autorin des Luftschacht Verlages, Ruth Cerha, die, M. und seine Frau stiegen die marmornen Treppen ins zweite Stockwerk empor, vor ihnen lief, sich mehrfach umschaute, sodass M. schon glaubte, er habe Verehrer, was aber ein Fehlschluss war. Frau Cerha hatte ihn als Kollegen erkannt, nicht als Objekt der Begierde.

Ob mehr als zwei Zuhรถrer kรคmen? Die Verleger waren sich nicht sicher.
Unbekannte Autoren, noch dazu Deutsche (Piefke, wie die ร–sterreicher uns gern nennen), werden ungern wahrgenommen.

Aber mit der akademischen Viertelstunde fรผllt sich der Raum, wenngleich, raunt man M. zu, mindestens die Hรคlfte der Zuhรถrer Bekannte der Wiener Autorin sind. Damit kann er leben. Sie werden schon sehen, was er kann.

Ruth Cerha und M. sollen vereinbaren, wer zuerst liest.

Ipp-Zipp-Zapp schlรคgt M. vor, aber das will die Autorin nicht, also wรคhlt M. den strategisch gรผnstigeren zweiten Platz, weil er weiรŸ, dass der Mensch sofort vergisst, und weil der letzte Eindruck der prรคgendere ist.

Man tritt ein, Applaus braust auf (nun ja, Applaus eben, das Brausen imaginiert man sich gern dazu), man setzt sich, und Ruth Cerha beginnt, aus einer ihrer Erzรคhlungen zu lesen.

M. hรถrt nicht zu. Wie kรถnnte er auch? Sein Herz pocht und er duldet keine Gรถtter neben sich, alles andere wรคre Lรผge und er will nicht lรผgen, das hat er Mutti schon vor fรผnfundfรผnfzig Jahren versprochen.

Showtime.

Das Licht ist gut, M. kann entspannt lesen, ohne stรคndig darauf achten zu mรผssen, nicht auรŸer Reichweite des Mikrofones zu schwanken, sein Sessel ist ein wenig zu niedrig oder der Tisch ist zu hoch, aber M. findet sofort ins richtige Tempo.

Er kann aufschauen, ohne den Faden zu verlieren, kann das dรผstere Starren des Mannes in Kulturschwarz in Reihe fรผnf rechts auรŸen parieren, dass dessen Eier gefrieren, er kann die Dame in Reihe zwei gleich vor ihm warm anlรคcheln und der jungen Frau weiter hinten bestรคtigen, was immer sie gerade imaginieren mag.

Alles geht und M. fรผhlt sich wohl.

Ganz hinten sitzt seine Frau und schaut (wie abgemacht) woanders hin, denn wenn es jemanden gibt, der weiรŸ, wovon M. redet, ist sie es, und ihr Blick kรถnnte tรถdlich sein. Unter ihrem Blick kรถnnte M. den Faden verlieren und dorthin abstรผrzen, wo er hingehรถrt, in die Hรถlle der Lรผgner, der Fantasten, denn im Gegensatz zu den Ingenieuren, die der Welt Sinn vermitteln, und es den Menschen ermรถglichen, Flรผsse sicher zu รผberqueren oder in Aufzรผgen zu fahren, ohne abzustรผrzen, sind die Schriftsteller erbรคrmliche Stutzer, die ihre Eitelkeit putzen und (im Falle von M.), kein weiteres Ziel verfolgen, als ihre Rente zu sichern.

Dann: warmer Applaus.
Lรคcheln in den Gesichtern der Zuhรถrer.
Jetzt sich Einnรคssen vor Glรผck und in die Hosen scheiรŸen, wie damals, als Kind, aber das tut M. dann doch nicht, er will ja nicht unnรถtig stinken.

Das nun folgende Sprechen รผber die Literatur pariert er gekonnt.

Er staunt, was da alles aus ihm heraus fliegt, er hatte das gar nicht gewusst, aber spรคter, als seine Frau und er durch den jetzt doch noch aufgekommenen Schneegriesel nach Hause schlendern, sagt sie ihm, dass er klug geredet habe.

Zwei Tage spรคter findet er das im Eingangsbereich der Gerhard Richter Retrospektive in der Albertina bestรคtigt.

Richter sagt, ยปich verfolge keine Absichten, kein System, keine Richtung, ich habe kein Programm, keinen Stil, kein Anliegen.ยซ

Der Abend klingt ยปBeim Hofmeisterยซ gleich um die Ecke hinter der Hofburg aus.
Hofmeister ist ein รถsterreichischer Schlendrian, man stellt sich lieber nicht vor, wie es in seiner Kรผche ausschaut, aber die Leberknรถdelsuppe schmeckt und Hofmeister ist freundlich, das Bier ist gut, und das Foto des kleinen weiรŸen Hundes, das neben der Theke hรคngt, ist, wie vermutet, das Bild eines toten Hundes, der – dem Todeskult des Wieners entgegen kommend – sicher ein Ehrengrab hat, irgendwo.

Es schlรคft sich gut in der Pension L.

M. hat seine Frau รผber die Ablenkungsmanรถver der jungen Russin informiert, und tatsรคchlich, an diesem Morgen telefoniert sie und telefoniert, wahrscheinlich mit ihrer Verwandtschaft in Sibirien oder sonstwo, und als dann auch noch eine fette deutsche Familie im Frรผhstรผcksraum auftaucht, die noch hรคsslicher ist als diese Familie auf der Lesung am Abend zuvor, ziehen M. und seine Frau es vor, die Erkundung der Stadt zu beginnen.

Zwei Tage spรคter liest M. noch einmal.

Es ist schon dรผster, als seine Frau und er nach Ottakring fahren.
Ottakring liegt in der Tรผrkei. AuรŸer Tรผrken hat sich dort auch die alternative Szene eingenistet, die so etwas gern tut, weil es sie in ihrem Glauben bestรคtigt, dass Offenheit, Toleranz und Liebe zu allen Menschen zu ihren Grundtugenden zรคhlt.

Als er den Club International betritt, sitzen im Hinterzimmer zwei Mรคnner mit rauschenden Bรคrten und langem Haar. Sie fachsimpeln รผber die Revolution. Die Bรคrtigen, einer mit Rangerhut, der andere mit Piratentuch, beide nicht mehr jung, beide aber vor Eifer glรผhend, lesen einander Texte vor, in denen darรผber spekuliert wird, wie die Arbeiterklasse die Macht รผbernimmt.

Ach ja.

M. hat einen Plan ausgeheckt.

Er will quasi den gesamten Roman vorlesen, und das tut er auch, irgendwie.
Er beginnt in Rio de Janeiro, switcht zu den Anfรคngen, fรผhrt seine Zuhรถrer auf den Luganer See, legt die Grundlagen fรผr die seinen Roman Pop Life durchziehende Katastrophe und ist schon wieder woanders. Dabei wechselt er mehrfach die Position, denn das Licht in diesem Raum ist nicht besonders gut, und bei schlechtem Licht ist es nicht einfach zu lesen, und dann stehen irgendwann auch noch beide Verleger auf und verlassen den Raum.

M. fackelt nicht lang. Als sie zurรผckkehren, erschieรŸt er sie.

Eigentlich schade, denn er liebt beide. Beide sind schรผchtern, zart beinah, beide haben ein Ziel, beide lieben die Literatur, und sogar bei der Musik finden sich รœbereinstimmungen. M. kann von Glรผck reden, dass er sie getroffen hat oder sie ihn.

Die Lesung war gut.

M. ist glรผcklich. Man hat ihn geliebt, obwohl er ein Piefke ist.
M. fordert jeden auf, ihn unverzรผglich zu buchen, zumindest aber sein Buch zu erwerben, denn was wรคre die Welt ohne Bรผcher, ohne sein Buch. Ein trostloser Ort, von Gott lรคngst verlassen, von den Menschen verwรผstet, missbraucht, Amstetten dagegen fast ein Idyll.

Hermann Mensing

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