»Hätten Sie denn nicht am Girpitsch übernachten können?«
»Die Nacht hätte uns eine Erkältung gekostet, nicht das Leben, aber Angst ist nicht rational und Panik sowieso nicht. Wir sind losgerannt, soweit man steil bergab überhaupt rennen kann, und erreichten schon nach einer Viertelstunde den See. Vom See bis zur Weißen Wand ist das Gelände auch hügelig, aber längst nicht so steil, deshalb sieht man den nächsten Orientierungspunkt erst nach dem letzten Hügel, eine Lärche mit einem toten Zweig wie der Arm eines Kaktus. An ihr stößt man auf die Weiße Wand und biegt links in den Wald ab. In den Grasbuckeln zwischen dem See und der Weißen Wand habe ich mich zu weit links gehalten und wir kamen viel zu hoch am Wald aus. Zu allem Unglück stürzte die kleine Engländerin beim Überspringen eines Baumstumpfes und verstauchte sich ein Bein. Sie saß im Gras und weinte über ihr Missgeschick, derweil sich die Sonne hinter dem Kreuzeck verabschiedete.«
»Ein filmreifes Klischee«, sagte Bettina. »Es sind immer die Frauen, die alles verderben, weil sie auf der Flucht stürzen oder im entscheidenden Augenblick hysterisch schreien, wo sie besser die Klappe gehalten hätten. Danach darf der männliche Held dem erschreckten Zuschauer zeigen, was in ihm steckt. Müßig zu erwähnen, dass die Szenen samt und sonders aus der Feder von Männern stammen.«
»Ich habe es nicht nötig, mir Spannungsbögen in mein Leben einzubauen«, sagte Stefan gereizt. Es schien ihm, als wollte Bettina ihre Hand beruhigend auf seinen Arm legen, aber sie änderte die Bewegung.
Er füllte die Weingläser nach. »Als wir endlich aus dem Wald heraus waren und auf die Mure kamen, war es dunkel. Bis zur Fromml-Hütte orientierten wir uns am hellen Geröll. Zu guter Letzt sind wir noch in den Bach gefallen.«
»Das durfte nicht fehlen«, schmunzelte Bettina. »Zünftiger Slapstick.«
»Ich war wütend. Bei eigenem Ungeschick verstehe ich keinen Spaß.«
»Ich dachte mir, dass Sie nicht über sich lachen können. Weil es sich nicht mit der Ernsthaftigkeit Ihrer Bemühungen verträgt.«
»Erinnern Sie sich etwa doch an mein Manuskript?«
»Zur Abwechslung möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: Wir reden morgen über Manuskripte, bevor Sie mich nach unten fahren. Das ist versprochen. Heute Abend erzählen Sie nur vom Girpitsch und der Priacher Kalkspitze und der Oberalm.«
»Gut«, sagte Stefan. »Morgen. Und die anderen Dinge? Wie geht es weiter?«
»Morgen«, antwortete Bettina.
Stefan schwenkte den Rotwein in seinem Glas. Ganz langsam schnürte sich der Hals zu.
Nach einer Weile sagte Bettina leise: »Schade.«
Das Glas stoppte und brach abrupt den Schwung des Weines. Stefans Gedanken schweiften zurück in die Wohnung in der Gottfried-Keller-Straße. »Ich sitze gerne vor der Hütte, besonders abends. Das befreit das Ich von seinen Fesseln und seinen vielfältigen Verkleidungen. Dann ist das Ich einfach nur es selbst. Sie kennen die Metapher von der Seele, die sich emporschwingt?«
»Wer nicht?« fragte Bettina zurück.
»Hier können Sie es in natura erleben.« Indem er aufstand sagte er: »Sie muss jetzt fliegen, sonst erstickt sie.«