StartseiteAlmtraumFolge 88 vom 28. Juni 2007

Folge 88 vom 28. Juni 2007

»Sie scheinen Ihren Rhythmus nicht zu finden«, sagte sie, heftig atmend. »Das ständige Umtreten ist sehr anstrengend.«

»Der Schnee«, erklärte er. »Ich habe den Weg verloren.«

»Ich bin enttäuscht.« Sie fing seinen fragenden Blick auf. »Schnee im Juni, das muss man genießen. Sehen Sie die farbigen Schimmer unter dem dünnen Weiß?«

»Alpenrosen.«

»Wir gehen daran vorbei und in unserem Kopf existiert nur der nächste Schritt. Fest auftreten, nicht rutschen. Eine geeignete Stelle zum Auftreten suchen. Weiter.«

»Möchten Sie sich gerne ein Bein brechen? Resi wird Ihnen den Gips mit Alpenrosen bemalen.«

»Resi?«

»Die Tochter des Walln-Bauern.«

»Mich stört, dass wir uns ganz auf das Aufsteigen konzentrieren und ringsum nichts mehr wahrnehmen.«

»Mich erfüllt bereits das Hiersein. Die Details verwischen sich, wie überall im Leben, und das Empfinden ändert sich durch häufigen Gebrauch.«

»Auch wenn Sie mir nicht glauben: Ich finde das Panorama überwältigend. Eigentlich sollte ich das nicht sagen, weil ich Ihnen keine Rechtfertigung liefern möchte. Sind Sie denn bereits abgestumpft?«

»Nein!« beteuerte er mit erhobenen Händen. »Die ersten Male hier oben hatte ich ähnliche Eindrücke. Aber dann faszinierte mich die Herausforderung, der Mensch abgeschnitten von der Technik, die ihn überall umgibt und ihm hilft, ohne dass er darüber nachdenken muss. Nur Unwissende und Überhebliche glauben, dass die paar Bäume und Sträucher und die Millionen Kubik von aufgeschichtetem Kalkstein lediglich eine andere Form von Landschaft sind, die nur die Sicht versperren. Das Übermaß von Natur ringsum war für mich auch stets bedrohlich. Die Berge und das Wetter sind zwei Kumpane, denen ich nie getraut habe. Sie schmeicheln uns mit Sonnenschein und lauern hinter dem Horizont mit Gewitterwolken. Damit wird ein Aufstieg nicht zu einer Frage von Kondition. Andere Umstände spielen mit, der unebene Wanderpfad zum Beispiel, und der Stein, den die letzte Schneeschmelze dorthin gespült hat, wo wir hergehen, exakt mit der in Jahrmillionen geschaffenen Rundung, die uns beim Auftreten den Halt nimmt. Wenn dieser Stein im Schnee dort vor Ihnen liegt, und Sie brechen sich im Sturz das Bein, rufen wir dann den Krankenwagen oder haben Sie das Gefühl, in einer lebensbedrohenden Situation zu stecken?«

»Wie hoch ist das Risiko – eins zu Jahrmillionen?«

»Es gibt mehr Steine dieser Sorte, als Sie denken. Wenn Sie auf der Landsdorfer Straße von einem Auto überrollt werden, ist Ihre Überlebenschance möglicherweise größer als ein Beinbruch hier oben, schon deshalb, weil Sie hier unbeweglich sind wie die Tonnen von Gestein ringsum, aber bedeutend machtloser. Sie haben nicht so viel Zeit.«

»Warum steigen wir hier herum, wenn es Ihrer Meinung nach gefährlich ist?«

»Sie müssen nur acht geben, wohin sie treten.«

»Und vor lauter Achtgeben nichts mehr um mich herum wahrnehmen. Damit sind wir am Ausgangspunkt meiner Frage.«

Stefan zuckte mit den Schultern. »Wollen wir trotzdem weitergehen?«

»Wenn Sie mir auf dem Rückweg den Bildstock unter den beiden Lärchen zeigen, ja.«

»Maria mit dem Kind. Die Senner nannten den Bildstock eine Kapelle.«

Bettina trat unruhig mit den Füßen auf der Stelle. »Sie haben nur Ihre eigene Vision vom Paradies im Kopf, nicht wahr?«

»Wem geht das nicht so? Wenn es Sie interessiert, können wir auch gerne über mein Paradies diskutieren.«

»Nicht hier. Ich brauche Bewegung, damit die Wärmeversorgung wieder in Gang kommt.«

Stefan lachte. »Sehen Sie, das meinte ich, als ich sagte, ich wollte ihr Blut in Wallung bringen. Tut mir leid, dass wir darüber gestritten haben.«

»Das ist eine Frage des präzisen Ausdrucks. Eine Lektorin muss unmittelbar verstehen, was der Autor sagen will.«

»Frieden?«

Bettina zögerte. »Machen Sie es sich nicht zu einfach?«

»Nein«, sagte er knapp. »Tun wir etwas für die Erhaltung Ihrer Gesundheit.« Er stapfte los, weiter bergwärts, und sie folgte ihm. Zielstrebig stieg er auf eine Gruppe von Latschenkiefern zu. Hinter dem Gesträuch gelangten sie in eine Ebene, in der Ferne war der Oberalmsattel zu erkennen. Es gab keine Bäume mehr, nur Weiß auf Dunkelgrün, wo sich die Latschen bis zur Grenze ihrer Überlebensfähigkeit nach oben ausgebreitet hatten.

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