StartseiteAlmtraumFolge 89 vom 29. Juni 2007

Folge 89 vom 29. Juni 2007

»Rechts, das ist die Priacher Kalkspitze. Priacher nennen wir ihn kurz und bündig, was nicht heißt, dass ich keinen Respekt vor den zweitausendfünfhundert Metern Höhe habe.«

»Wie hoch sind wir jetzt?«

»Achtzehnhundert Meter etwa.«

»Wollen Sie noch weiter hinauf?«

»Nur noch bis vor den Sattel, wo die Steigung beginnt. Die sollten wir uns schenken.«

»Rutschgefahr?«

Stefan ärgerte der ironische Unterton. »Knapp daneben. Wenn die Wolken aufreißen, zeigt uns der Priacher vielleicht noch sein graues Haupt.«

»Der Berg ist wohl so etwas wie eine Legende?«

»Am ersten Sonntag nach dem 15. August wird eine Messe auf dem Gipfel gehalten. Dann ist ganz Josephskirch oben – also die, die noch gut beisammen sind. Vorsicht, hier ist es matschig.«

»Hat das Datum eine Bewandtnis?«

»Der 15. August ist Mariä Himmelfahrt.«

»Aha«, sagte Bettina.

Stefan schenkte sich die Frage, was sie mit dem einen Wort ausdrücken wollte. Sie überquerten einen flachen Zulauf zur Priach. Jeder Schritt platschte und färbte den Schnee dunkel. Stefan schlug einen Bogen und sie hatten wieder Gras unter den Füßen. Ein vom Schnee freigewehter Felsbrocken trug ein rot-weißes Zeichen mit einer Nummer, verwittert, aber noch erkennbar.

»Hier verläuft ein Wanderweg«, bemerkte Bettina überrascht.

Stefan brummte eine Zustimmung. »Von dort drüben«, sagte er, ohne die Richtung konkret anzuzeigen. »Das ist eine alte Markierung, der Weg führt mittlerweile hinter dem Priacher her«, log er geistesgegenwärtig. »Hier herum ist es zu gefährlich.«

Bettina blieb stehen und öffnete ihre Arme. »Sie sind offensichtlich der Tarzan der Berge. Ohne Sie …« Ihre Arme fielen herab.

»Ich hatte bereits zweimal das Vergnügen.«

»Verdammt ja!« sagte sie heftig. »Verdammter Zwiespalt! Sie gehören abgestürzt!«

»Damit ich mich zwiespalte?«

»Zwei Teile werden Ihrem Anspruch nicht gerecht. Sie zerfallen in soviel wie mögliche Steinchen mit der gewissen Rundung. Zum Drauftreten für harmlose Touristinnen.«

Nein, für Lektorinnen, dachte er. Ein eigenartiger Einfall drängte sich ihm auf. Wenn er schon als Stefan Gibtesnicht untergehen sollte, dann müsste sie das Urteil vollstrecken und ihm einen ihrer Sprüche mit auf den Weg geben, oben an der Weißen Wand im Augenblick des Abschieds. Flieg mit den Lerchen …

»Ist hier das Ende der Gefährdungen?«

Stefan drehte sich abrupt weg. Sollte doch ihr Einfühlungsvermögen entscheiden, ob sie seine Reaktion als Missachtung oder als Eingeständnis seiner Niederlage einstufte. In den folgenden Minuten blieb er stumm. Der Weg war hier sehr ausgetreten und uneben, und die Gefahr, auf einen verdeckten Grasbüschel oder Stein zu treten … Schluss! Seine ständigen wohlmeinenden Hinweise und Erklärungen mussten überheblich und anmaßend auf Bettina wirken, als sei sie ein dummes Ding ohne Gespür für Achtsamkeit und er eine Nervensäge. Vergeblich suchte er nach einem unverfänglichen Neuanfang für ein Gespräch und fühlte sich erlöst, als sie bemerkte, sie würden sich inzwischen oberhalb der Baumgrenze befinden.

»Sie könnten auch die Strauchgrenze und die Vegetationsgrenze sehr schön am Kegel des Priacher erkennen«, erklärte er. »Leider verwischt der Schnee heute alle Unterschiede.«

»An den Schnee im Juni habe ich mich inzwischen gewöhnt, ich würde mir nun gern auch einmal anschauen, was darunter ist. Sind die Alpen Ihr Hobby?«

»Nein. Das Meiste habe ich aus den Gesprächen mit den Bauern.« Er blieb stehen und schaute sie direkt an. »Wenn es Sie interessiert …«

Bettina wich seinem Blick nicht aus. »Antworten Sie ehrlich: Wann ist der Weg nach unter wieder frei?«

Er hätte gelogen und weitergespielt, so gut es ohne Gewalt ging, doch ließ ihm der Appell an seine Ehrlichkeit keine Wahl. Ein warmer Tag genügte, um das Weiß in Wiesen und Felsen zu verwandeln. Das Wetter knabberte bereits grüne Tupfer in den Schnee. »Morgen.«

»Gut«, nickte sie. »Dann weiß ich wenigstens, was wir heute Abend machen.«

Stefan verkniff sich die Frage, was sie damit meinte. Eine große Abrechnung, stellte er sich vor, bei der sie ihn lektorieren und alles in Frage stellen würde. Leider konnte er ein Buch, das Wirklichkeit hieß, nicht umschreiben.

Am Fuße des Oberalmsattels kehrten sie um und machten erst an der Kapelle halt. Hinter einem Kreuzgeflecht aus schwarzem Eisen stand eine Madonna in einer in den Spitzbogen eingelassenen Nische, das Kind auf dem Arm. Unter dem Enzianblau von Marias Umhang schimmerte der Gips hervor.

Mit Bildstöcken und Wegkreuzen waren nach Stefans Vorstellung Errettung aus Bergnot oder Tod verbunden. Er wusste nichts über die Entstehung dieser Kapelle und erzählte Bettina deshalb von dem Holzkreuz hinter dem Oberalmsattel; es gedachte dem Tod von zwei jungen Leuten anno 1912. Sie wurden Fronleichnam auf dem Weg nach Josephskirch von einem Schneesturm überrascht. Stefan ging nie an dem Kreuz vorbei, ohne einen Augenblick zu verweilen. Heutzutage war es kaum vorstellbar, mitten im Juni in einem Schneesturm umzukommen. Wer ging schon Fronleichnam übers Gebirge nach Josephskirch, etwa zur Prozession? Und ohne den Wetterbericht gehört zu haben?

Stefan war auf einen Aufguss der Kontroverse mit Bettina vorbereitet. Sie dagegen sprach von einem traurigen Schicksal, von Hoffnung, Erwartung und Lebensfreude, die plötzlich zerstört wurden, von der Angst der Betroffenen und dem quälend langen Zeitraum bis zu der Erkenntnis, dass es viel zu früh vorbei war, die bitteren Momente der Rückschau. Bettina war es auch, die weiter ging und damit das Ende des Gespräches bestimmte.