StartseiteAlmtraumFolge 87 vom 27. Juni 2007

Folge 87 vom 27. Juni 2007

Der Oberalmsee lag anderthalb Wegstunden bergwärts hinter einem Sattel, der die Grenze zwischen dem Lungau und dem Pongau bildete. Dahinter verlief der Tauernhöhenweg am Oberalmsee und der gleichnamigen Hütte vorbei. Bis zum Sattel wollte Stefan nicht gehen, um Bettina kein zusätzliches Tor zur Freiheit zu zeigen und jede Begegnung mit anderen Menschen zu vermeiden, auch wenn bei diesem Wetter auf dem Tauernhöhenweg nicht mit Wanderern zu rechnen war. Die Oberalmhütte würde dahingegen umso voller sein, sie war bewirtschaftet und bot Nachtlager an.

Bettina schloss zu ihm auf. Am Fuß eines gewaltigen Buckels, der sich vor ihnen in den Weg stellte, stießen sie auf einen Zaun mit einem schmalen Durchlass.

»Hier hinauf führt ein schmaler Fußweg. Selbst ohne Schnee ist er nur stellenweise zu erkennen«, erklärte Stefan. »Laufen Sie mir einfach nach.«

»Wie weit gehen wir hinauf?«

»Ich schätze hundert Meter Höhendifferenz. Sie blicken so skeptisch. Sie haben doch keine Konditionsprobleme, oder?«

»Ich war noch nie so hoch im Gebirge. Ich bevorzuge die weite Ebene.«

»Sylt – stimmt’s? Kampen oder Keitum? Wo selbst der steife Nordnordwest den Geruch von Geld und Einfluss nicht weg wehen kann.«

»Bisher haben Ihre Berge nur mit Ungemütlichkeit überzeugt. Was ist eigentlich so aufregend daran, wenn man fröstelt?«

»Ihre Gänsehaut vielleicht.«

»Und die möchten Sie sehen?«

»Herrgott noch mal!« polterte Stefan. »Können Sie an nichts anderes denken?« Mehr wusste er nicht zu sagen. Im Grunde wollte er überhaupt nicht reden, sondern dem Wetter trotzen und sich nach der Wanderung gut fühlen.

»Wer hat die Haut ins Spiel gebracht, ich oder Sie?« fragte Bettina.

»Gut«, sagte Stefan nach einer kurzen Pause. »Versuchen Sie, Ihren Rhythmus finden, einen gleichmäßigen Schritt. Wenn ich zu schnell bin, melden Sie sich.«

Stefan zwängte sich durch die schmale Öffnung des Zaunes. Ungezählte Male war er schon zur Oberalmhütte gewandert, wann er zuletzt durch Schnee aufgestiegen war, daran konnte er sich nicht erinnern. Wahrscheinlich würde er es auch nicht gewusst haben, wenn sein Erinnerungsvermögen einwandfrei funktionieren würde. Er konzentrierte sich auf den Weg und die Markierungen, große Felsbrocken, einzeln stehende Lärchen und Kiefernsträucher. Der Schnee behinderte das Gehen, häufig trat er auf Grasbüschel oder Steine und rutschte ab; er konnte auch den Verlauf der ausgetretenen Stellen nicht ausmachen, die ihm die Gerade den Hang aufwärts zur nächsten Spitzkehre wiesen. Er kam im Hang zu weit rechts ab und gab die Suche nach dem Weg auf. Steil arbeitete er sich auf einen Felsbrocken zu, den er zu kennen glaubte; dort angekommen hielt er an, zog die Luft tief durch und wartete auf Bettina.

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