StartseiteAlmtraumFolge 86 vom 26. Juni 2007

Folge 86 vom 26. Juni 2007

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Im Laufe des Vormittags zerrissen die durch das Tal ziehenden Wolken, stiegen höher und begnügten sich damit, die Berggipfel ringsum unter einer grauen Decke zu halten. Der Schnee lag noch hauchdünn auf den Zweigen der Bäume wie vergessene Wolkenschleier.

Zu Mittag gab es Bratwurst mit Bratkartoffeln. Bettina erledigte den Abwasch nach dem Essen, ohne dass Stefan sie darum bitten musste. Sie könnte die Idealbesetzung für eine Hüttengemeinschaft sein, dachte er. Als hätte Bettina seine Gedanken gelesen, bemerkte sie mürrisch, dass für die Frauen immer die Drecksarbeit übrig bliebe, während die Herrschaften die Essenszubereitung als kreative Kochkunst zelebrierten.

»Was halten Sie von einer Wanderung durch den Schnee?« fragte er in versöhnlichem Ton. »Das Wetter hat uns lang genug an die Hütte gefesselt.«

»Hat es das?«.

Die Frage irritierte ihn. Damit hat sie ihr Ziel erreicht, ärgerte er sich. »Ich gehe auf jeden Fall«, antwortete er unfreundlich. »Wenn Sie hier bleiben, schließe ich Sie ein, damit Sie mir nicht in die nächste Felsspalte stolpern.«

»Ich wollte Sie nicht provozieren.« Bettina schüttelte den Spülmittelschaum von einem Teller und stellte ihn zum Abtropfen in die gelbe Schüssel.

Obwohl er nicht überzeugt war, dass Bettina die Wahrheit gesagt hatte, akzeptierte er die Erklärung. Mit dem Schuhputzzeug hockte er sich so auf die Truhe am Ende des Küchenraums, dass ihm das Tageslicht durch das Fenster über die Schulter fiel, und rieb seine und Bettinas Bergschuhe mit Lederfett ein.

Bettina schob die Besteckschublade der Kommode mit einem heftigen Ruck zu. »Meine Schuhe – ich meine, die ich letzte Nacht getragen habe – sind mir zu groß. Ich werde mir Blasen laufen.«

»Ich lege Ihnen ein zweites Paar Wollsocken heraus. Soll ich Ihnen die Fersen mit Heftpflaster abkleben?«

»Nicht nötig.« Bettina goss das Spülwasser vor die Hüttentür ins Gras. »Ich bin soweit«, sagte sie.

Stefan wollte ihr in den Skianorak helfen, aber sie nahm ihm die Jacke aus der Hand. Mit zwei Strümpfen hatte sie Mühe, in die Bergschuhe zu kommen. Probeweise ging sie ein paar Schritte auf und ab.

»Passt«, sagte sie. »Blasen sind kein Thema mehr, dafür werden mir die Füße absterben.«

»So kalt ist es draußen nicht.«

»Ich spreche von der Blutzirkulation.«

»Ich werde Ihr Blut schon in Wallung bringen.« Zu spät erkannte Stefan, wie zweideutig der flapsige Ausspruch war.

»Dafür kochen Sie auf viel zu kleiner Flamme«, hieb Bettina zurück.

»Im Gegenteil«, erwiderte er, »wenn ich verglühe, wird jeder in meiner Nähe verbrennen.«

»Und Sie werden endlich zu dem, was Sie sind: ein schwach leuchtender weißer Zwerg.«

Stefan schluckte. »Ein kleines Licht«, sagte er tonlos, »das von Lektorinnen ausgeblasen wird.«

»Ich fasse es nicht!« Bettina schlug die Hände gegen die Stirn. »Erst markige Sprüche und dann zerfließen Sie in Selbstmitleid! Kein Wunder, dass Sie keine anständige Entführung auf die Reihe …« Erschreckt hielt sie inne. »Wir benehmen uns albern. Bitte, ich würde jetzt gern die Schneewanderung machen.«

Vor Ärger konnte Stefan nicht antworten. Sie hatte ihn mit Worten abgeschossen und er krönte ihr den Erfolg mit dem weinerlichen Eingeständnis von Schwäche!

»Es tut mir leid«, sagte sie eindringlich.»Sie sind beleidigt, nicht wahr?«

Sollte er zugeben, dass er nicht sie meinte? Nein, das änderte nichts. Spätestens morgen würde sie den Spieß umgedreht haben und er saß in der Falle. Der unabänderliche Wetterumschwung war ihr Verbündeter. Er ging los.

»Soll ich hier bleiben? Und schließen Sie die Hüttentür nicht ab?« rief sie ihm hinterher.

Stefan breitete die Arme aus, ohne sich umzudrehen. »Wer klaut schon eine Lektorin?«

Die Hüttentür fiel so laut ins Schloss, dass er sich sorgte, sie könnte beschädigt worden sein. Trotzdem freute er sich, dass sie ihm folgte.