StartseiteAlmtraumFolge 78 vom 18. Juni 2007

Folge 78 vom 18. Juni 2007

»Beim Wasser halten wir es wie mit der Toilette – wer die Gießkanne zuletzt benutzt, füllt sie am Trog wieder auf.« Stefan brachte die Gießkanne an ihren Platz neben der Eingangstür. Ein dunkler Fleck im Holz markierte die Stelle, wo die Kanne gestanden hatte. »Plastik ist auch nichts für die Ewigkeit«, murmelte er im Bücken.

»Wo ist das Badezimmer?« fragte Bettina bissig.

»Dort.« Stefan zeigte auf den Tisch mit den gebogenen Beinen in der Ecke zwischen Eingang und Wohnraum. »Das ist sogar ein echter Waschtisch aus dem Schlafzimmer des Almbauern. Das Badezimmer ist die gelbe Schüssel. Die kleinere rote nehmen wir für den Abwasch.«

»In der ich mir die Füße gewärmt habe?«

»In ein paar Tagen denken Sie natürlicher.«

»Kommen Sauberkeit und Hygiene in Ihrem Naturwahn nicht mehr vor?«

»Schon. Nur relativ.«

»Sie machen sich einen köstlichen Spaß mit mir, führen sich auf wie Mutter Natur persönlich und wollen ein Exempel an einem verhätschelten Zivilisationskind statuieren!«

Stefan trat einen Schritt zurück. Seine Lektorin war ein ausgesprochen vitales Exemplar, das auch vor handgreiflicher Argumentation nicht zurückzuschrecken schien; mit ihr würde es nicht einfach werden. Ihr noch einmal zu sagen, wie gut ihr diese Wut stand, ginge wohl zu weit. »Ich halte es mit Francis Bacon: Die Natur kann man nur beherrschen, indem man ihr gehorcht.«

»Mit gelben und roten Plastikschüsseln, einer grünen Plastikgießkanne und einer Plastiktoilette, in der Chemie schwimmt.«

»Sehen Sie das nicht so grundsätzlich. Wir gehorchen ein paar Regeln und haben alles im Griff.«

»Ich möchte unter die Dusche«, sagte Bettina so bestimmt, dass Stefan noch einen weiteren Schritt Abstand zwischen sich und die Lektorin legte. »In meiner kleinen, hübschen Eigentumswohnung in der Lessingstraße!«

»Wir stecken dazu den Gießaufsatz auf die Kanne«, sagte er. »Bitte, das ist kein Scherz. Gebadet wird in der gelben Schüssel. Sie gießen warmes Wasser hinein, soviel Sie brauchen. Und waschen sich.«

»Ich stehe nackt in der Schüssel und Sie bieten an, mich abzuseifen?«

»Warum nicht?« fragte er, als habe er den plumpen Versuch, ihm eindeutige Absichten zu unterstellen, nicht verstanden. »Die kleine Engländerin ließ sich gerne den Rücken waschen. Mach ruhig weiter, auch die Beine, sagte sie.«

»Ersparen Sie mir die intimen Details.«

Stefan lachte und schlug mit der flachen Hand auf eine gedrungene Kommode. »Das hier ist unser bestes Küchenmöbel.« Man sah ihr an, dass sie vor langer Zeit und für Höhen oberhalb von tausend Metern angefertigt worden war. Die linke Seite hatte drei quadratische Schubladen und die rechte eine Tür, die mit einem Hölzchen im Rahmen festgeklemmt war. Die Tür zierte ein dunkelgrünes, rot umrandetes Herz, umgeben von blühenden Blumen. Die kleine Engländerin hatte sich an der Tür in Bauernmalerei versucht.

Stefan ruckelte die obere Schublade heraus. Besteck klapperte. »Dieser Schrank enthält alles, was die moderne Hausfrau braucht: Töpfe, Geschirr, Sieb, Reibe, sogar einen Handquirl. Erstaunlich, wie wenig Platz dafür benötigt wird, nur leidet die Ordnung und es ist nicht alles so griffbereit wie in meiner Einbauküche.« Es gelang ihm, die Schublade mit einem Ruck zu schließen.

»Ich habe bereits hineingeschaut«, sagte sie. »Sonst hätten Sie Ihre Spaghettis um die Finger wickeln können.«

»Gut formuliert, aber nicht logisch«, erwiderte er. »Ich weiß nämlich, wo die Löffel und Gabeln sind. Und in diesem Schränkchen – das brauche ich Ihnen nicht zu erklären.« Neben der Kommode stand der Aufsatz eines alten Küchenschrankes mit verglasten Türen. Stefan handelte den Inhalt mit einer Handbewegung ab: Konserven, eine Flasche Ketchup, Tomatenmark, Sonnenblumenöl, Senf, Würfelzucker, Mehl, aufeinander gestapelte Dosen mit Fisch, Hundefutter, Kerzen, Streichhölzer.

»Das Gewürzregal hier ist ebenfalls ein Original.« Die weißen Porzellanschubladen waren mit Zucker, Salz, Pfeffer, Anis und Feigenkaffee beschriftet. In den offenen Fächern darüber standen kleine Gläser, Dosen und Tüten, ein Sammelsurium von Zutaten für die schmackhafte Zubereitung von Mahlzeiten.

Stefan hob einen blau umsäumten Vorhang an der Wand. »Hier hängen die Werkzeuge für die Frau – Besen, Schrubber, Handfeger, Kehrblech.« Mit dem Fuß tippte er gegen eine Ausbeulung des Vorhanges. »Der Putzeimer.«

»Ist Ihr Einführungskurs in die Wohngemeinschaft mit Entführten jetzt beendet?«

Die Lektorin klang kämpferisch, nichts mehr von Angst war spürbar. Stefans innere Anspannung wuchs sprunghaft – er würde vorsichtig sein müssen, damit die Situation nicht außer Kontrolle geriet, denn schließlich war er nicht gewaltbereit.

»Dann gehen wir wohl jetzt in den Schlafraum«, sagte er kühl, mit äußerster Beherrschung. Ihre Augen flackerten. Getroffen, stellte er fest. Ohne Zweifel war es eine Schweinerei, mit ihrer Angst zu spielen, aber sie blieb seine einzige Waffe.

»Vielleicht – nach den praktischen Dingen des Alltags – ich soll einen Roman für Sie schreiben?«

»Nicht in dem schlamperten Aufzug. Ich werde Sie erst neu einkleiden. Kommen Sie.«