StartseiteAlmtraumFolge 71 vom 11. Juni 2007

Folge 71 vom 11. Juni 2007

Bettina ging los, ohne auf seine Aufforderung zu warten. Der Pfad war wegen des Schnees nur noch an geschützten Stellen als schmaler Streifen im Gras zu erkennen, gesäumt von Latschenkiefern und krumm gewachsenen kleinen Lärchen. Kurze Kehren wechselten mit treppenstufig ausgetretenen Anstiegen, in denen sie Felsbrocken, Zweige oder auch große Grasbüschel zum Festhalten benutzten. Stefan gab ununterbrochen Anweisungen, wo sie hintreten solle. Trotzdem glitt sie ständig aus und musste von ihm gestützt werden. Auf einer ebenen Stelle machte sie keuchend halt.

»Gehen Sie langsam weiter«, mahnte er, »dann bleiben Sie warm und erkälten sich nicht.«

Sie öffnete den Mund und er rechnete mit einer Beschimpfung. »Der Rock ist nass«, sagte sie unter schnellem Atmen. Mühsam hielt sie die Tränen zurück.

»In der Hütte können Sie sich umziehen.« Stefan legte Zuversicht in seine Worte. Jammern half nicht, sie tat ihm leid. Auch mit trockener Kleidung wäre der Aufenthalt im Freien ungemütlich. Den Umweg über den Beinaheabsturz hatte er zwar nicht zu vertreten, gleichwohl war er für alles verantwortlich.

Ein riesiger Felsbrocken versperrte den Aufstieg und zwang sie, sich rechts zu halten, auf das anschwellende Donnern der Priach zu. Mehrere hundert Liter eiskaltes Bergwasser stürzten vor ihren Augen in jeder Sekunde in die Tiefe und verschwanden in Gischt und feuchtem Wassernebel. Unmittelbar am Abgrund führte der verschneite Steig um den Felsen. Bettina lehnte sich instinktiv an und klammerte sich mit beiden Händen fest.

»Ein atemberaubender Anblick, nicht wahr?«

Sie tastete sich vorsichtig weiter und setzte jeden Fuß mit Bedacht, ohne den Felsen loszulassen.

»Ganz in der Nähe gibt es einen Sitzplatz, von dem aus lässt sich der Wasserfall traumhaft genießen.« Dicht hinter ihr blieb er stehen, bereit, sie zu stützen oder festzuhalten.

Das letzte Drittel des Weges wurde flacher und führte durch ein Gehölz aus mannshohen Latschenkiefern. Bettina bog die Zweige zur Seite und ließ sie ohne Rücksicht auf Stefan hinter sich zurückschnellen. Er schützte sich mit dem Ellenbogen vor dem Gesicht. Auf der Almwiese lag der Schnee dicht und verdeckte die Polster von Alpenrosen, Blaubeersträuchern und Schneeheide, als seien sie die Narben der Wiese.

Stefan entlud den Tragekasten des Lifts und stellte die Kartons mit den Lebensmitteln und das Gepäck auf ein noch schneefrei gebliebenes Fleckchen Erde unter Bäumen ab. Sorgfältig bedeckte er den Stapel mit blauen Abfallsäcken.

Bettina war zunächst am Lift stehen geblieben und dann allein weitergegangen. Sie muss Eisfüße haben, dachte Stefan.

»Warten Sie«, rief er und arretierte das Schutzgitter des Tragekastens. »Ich zeige Ihnen, wo es lang geht, damit Sie nicht stolpern, es liegen überall Felsbrocken im Gras.«

Sie hörte nicht auf ihn. Stefan stellte den Karton zu den anderen und rannte ihr nach. An der Hüttentür holte er sie ein.