Der Holzverschlag am Lift war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Stefan entfernte das lose Brett, das nur für die nicht Eingeweihten festgenagelt schien. Den Trick der Genossenschaftsbauern gegen die Vergesslichkeit und für unvorhergesehene Fälle hatte ihm der Lugleitner gezeigt, von dem er die Hütte gepachtet hatte.
Der Generator brummte in den stillen Morgen. Am Seil setzte sich der Tragkasten in Bewegung, rappelte über die Führungsrollen des Mastes, sackte ein kurzes Stück und schwebte dann aufwärts. Die ganze Zeit schaute Stefan ungeduldig nach oben in die Wand, bis der Kasten den zweiten Mast erreicht hatte und über dem Grat verschwand. Mit einem Ruck blieb das Seil stehen. Stefan schaltete den Generator ab und fügte das lose Brett in die Öffnung.
Mittlerweile fielen die Flocken dünner und nicht mehr dick und nass; ein Zeichen, dass die Temperatur weiter gesunken war. Der Schnee entwickelte sich allmählich zu einer Bedrohung; er war nun ganz und gar nicht mehr nur ein vorgeschobenes Argument, um Bettina möglichst schnell zur Hütte zu bringen.
Bettina saß nicht mehr im Auto, und sie hatte die Decke, seinen Schlafsack, mitgenommen.
»Verdammt!«, fluchte Stefan. Bettinas Fußspuren waren im Schnee noch zu erkennen. In vorsichtigen Laufschritt folgte er ihnen. Sie war mit kurzen Schritten den Weg hinunter gerannt und häufig ausgerutscht. Eine breite Stelle platt gedrückter Schnee am oberen Gatter zeigte, dass sie beim Überklettern gestürzt war.
Ihr Aufschrei war pure Todesangst.
»Ich komme!« schrie Stefan und rannte wie besinnungslos um die vor ihm liegende Wegkurve.
Bettina klammerte sich mit dem Kopf in Weghöhe an den Stamm einer dünnen Fichte und an einen Steinbrocken, der auf der Wegkante lag, und versuchte, mit den Füßen Halt im Abhang zu finden. Immer wieder lösten sich Steine und Erde und stürzten in das tief unter ihr liegende Bachbett.
Stefans Beine zitterten, als er in die Hocke ging und Bettina unter die Achseln fasste. Im Ziehen fiel er nach hinten und bekam sie auf den Weg. Sie rollte sich von ihm weg.
»Du Scheißkerl!«
Er wusste es bereits, obwohl er sie nie und nimmer in Gefahr gebracht hätte und sich für ihre Kurzschlusshandlung verantwortlich fühlte. Gegen ihr Sträuben versuchte er, sie auf die Beine zu stellen, aber sie machte sich schwer wie ein nasser Sack.
»Bitte!« sagte Stefan.
Bettina stand auf und strich die Haare aus dem Gesicht. Er zog sie an einem Arm in Bewegung und legte die weniger schmutzige Seite der Decke um ihre und seine Schultern. Seine Sportschuhe waren mittlerweile durchfeuchtet und die Kälte kroch ihm in die Zehen und durch die ungefütterte Jacke. Beim Gehen berührte er ihre Schulter. Sie achtete nicht darauf und ging stur in dem einmal gewählten Tempo weiter, als verfolgten sie beharrlich ein gemeinsames Ziel. Zwischendurch schniefte sie und heulte leise wie ein Kind.
Am Fuße der Bergwand blieb er stehen. »Sie wollen wirklich nicht mit dem Lift …?«
Sie wartete das Ende der Frage nicht ab und schüttelte den Kopf.
»Gut. Versuchen wir unser Glück. Wir können nun nicht mehr nebeneinander gehen. Ich bleibe dicht hinter Ihnen und sichere, wenn Sie rutschen. Der Schnee – wenn ich das gewusst hätte …«
Ihr Frieren tat ihm weh.
»Ich wickele Ihnen den Schlafsack um«, sagte Stefan. Er hakte den Reißverschluss der Decke ein und zog ihn bis zum Fußende hoch. »Halten Sie«, sagte er, legte ihr den Schlafsack um den Oberkörper und drückte ihr das Ende in die Hand. Mit dem Hosengürtel band er den zusammengerollten Schlafsack fest. »Passt«, sagte er und fädelte den Dorn durch das letzte Loch des Gürtels. »Wenn sie stürzen, dann wenigstens weich«, versuchte er einen Scherz. »Beim Aufstieg wird Ihnen zusätzlich warm werden.«