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StartseiteAlmtraumFolge 65 vom 5. Juni 2007

Folge 65 vom 5. Juni 2007

Stefan hatte Mühe, den Polo aufzuschließen. Die Schachtel mit den Tabletten lag auf der Ablage vor dem Beifahrersitz. Zwei Tabletten fielen auf die Fußmatte, bis zwei in der Handfläche lagen. Das musste reichen. Er warf die Tür zu und schloss den Kofferraum auf. Bitter Lemmon wäre ideal vom Geschmack, aber den hatte er nicht. Also Mineralwasser in den Deckel der Thermoskanne. Mit dem Zeigefinger zerdrückte er die Tabletten. Lichtjahre schienen zu verstreichen, bis sie sich auflösten.

»Hier.« Er hielt Bettina den Plastikdeckel hin.

»Wo ist die Tablette?«

Verdammt, sie machte Schwierigkeiten. Er zeigte auf den Deckel. »Im Wasser.«

»Sie haben die Tablette …? Woher soll ich wissen, was sie wirklich ins Wasser getan haben?«

Ein Tropfen löste sich zwischen Stefans Schultern und lief die Wirbelsäule entlang bis zum Gummizug der Unterhose. Ein zweiter Tropfen folgte.

»Entschuldigung«, sagte er. »Meine Mutter … Ich konnte als Kind nie Tabletten schlucken, da hat sie mir die Dinger in Wasser aufgelöst. Seitdem mache ich es immer so.«

Bettina zögerte.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Stefan fuchtelte mit der freien Hand. »Weil Sie durch mich schon so viel Ungelegenheiten gehabt haben. Sie trinken das Wasser mit der Tablette und ich behalte mein Manuskript. Ist das ein Wort?«

»In Gottes Namen. Und bringen Sie mich bitte jetzt nach Hause. Ich zahle auch.«

»Wollen Sie mich beleidigen? Versprochen ist versprochen.«

Bettina nahm einen Schluck. »Huh, ist das aber bitter.«

»Mit der Schoole ist es wie mit der Medizin«, zitierte er, »sie moss bitter schmäcken …«

Bettina trank aus und winkte gleichzeitig ab. »Verschonen Sie mich mit Ihren Sprüchen.«

Stefan nahm ihr den Becher ab. »Ich komme gleich zurück.« Er hampelte wie jemand, der übertriebene Eile an den Tag legt, lief zum Polo und schraubte langsam den Becher auf die Thermoskanne. Sorgfältig stellte er die Kanne an ihren Platz zwischen dem Getränkekarton und der Sporttasche, damit sie beim Fahren nicht umfallen konnte, er ordnete das Gepäck umständlich und zwang sich, nicht zu Bettina hinüber zu sehen, ob sie schon ungeduldig geworden war oder womöglich aus dem Wagen gestiegen. Wie beim Luftanhalten unter Wasser versuchte er den Punkt der Rückkehr so weit wie möglich herauszuzögern, bis er den Druck auf die Brust nicht mehr aushalten konnte.

Bettina hatte den Kopf auf die Rückenlehne gelegt und hielt die Augen geschlossen, als er in das Taxi einstieg. »Wenn Sie nicht sofort losfahren, kostet Sie das Ihre Lizenz.«

Stefan hatte keine Ahnung, wann die Wirkung der Tabletten einsetzen würde. Fünfzehn, maximal zwanzig Minuten würde er bis zu ihrer Wohnung brauchen. Damit sich die Lektorin nicht noch mehr aufregte, fuhr er los. Jetzt könnte er rote Ampeln, Staus und Verkehrsunfälle gut gebrauchen, statt dessen freie Fahrt überall. Soweit es der Verkehr zuließ, beobachtete er Bettina durch den Rückspiegel. Eine Frau in seinem Alter, mittelblonde Haare, die sie aus der Stirn zurückgekämmt hatte. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen und er traute sich, einen kleinen Umweg zu fahren, der auf dieser Strecke gerne den Ortsunkundigen zugemutet wurde.

»Wo sind wir denn hier?« Bettina blinzelte mit einem Auge durch die Seitenscheibe.

»In der Viktor-Emanuel-Straße ist ein Unfall«, erklärte Stefan geistesgegenwärtig.

Als er klopfenden Herzens das Fahrziel erreichte, atmete sie ruhig und gleichmäßig. Probeweise fuhr er zwei Mal um den Block. Sie merkte nichts und er machte sich auf den Rückweg zu Moosbauer.

Verdammt, das war die Lektorin, die ihm die letzte Absage erteilt hatte, die mit der frischen, kaum vernarbten Wunde. Gott segne den Zufall, mit dessen Hilfe in Romanen die unmöglichsten Dinge aneinanderfügt werden. Wie viele Geschichten würden ohne den Zufall haltlos in sich zusammenbrechen? Er strengte sich an, erinnerte sich aber nicht mehr an den Wortlaut der Absage. Seltsam, die Briefe waren allesamt an Stefan Bruhks adressiert, obwohl er unter diesem Namen amtlich nicht existent war.

Der Beifahrersitz in seinem Polo war noch frei.