StartseiteAlmtraumFolge 61 vom 1. Juni 2007

Folge 61 vom 1. Juni 2007

Seine eigenen Romane hatten ihn bis jetzt gut unterhalten, zudem waren sie frei von seelischen Erschütterungen, weil sie nur auf dem Papier stattfanden und ihn persönlich nicht betrafen. Auf dem Stapel der ausgedruckten Manuskripte lag obenauf das nächste Titelblatt, Huren und Zitronen. Stefan konnte sich kein Bindeglied zwischen diesen beiden Begriffen vorstellen. Neugierig begann er zu lesen. Auf Seite 25 fand er die Auflösung: Benno, der kaufmännische Angestellte, begegnet einem Kollegen am Kaffeeautomaten.

Der Raum, in dem der Kaffeeautomat stand, war eine Enklave inmitten der Geschäftigkeit des Bürogebäudes. Hier wurde Informelles ausgetauscht und ansonsten geschickt verborgene Gefühle krochen aus dunkelblauen oder schwarzen Bürouniformen hervor. Ein Kopierer und ein Reißwolf standen noch mit im Raum und markierten den Anfang und das Ende eines unendlichen Kreislaufes.

»Ich bin eine Zitrone«, sagte Benno, während er drei Groschen in den Blechschlitz einfädelte.

»Bist du sauer? Hat es Ärger mit Möhlmann gegeben wegen der Preiskalkulation für Spanien?«

Benno wählte Kaffee mit Milch.

»Er ist eine Hure.«

»Drück’ dich genauer aus. Schläft er mit seiner Sekretärin?«

Der Automat presste den Kaffee jaulend durch den Filter in den Becher.

»Es gibt zwei Arten von arbeitenden Menschen.« Benno zog den Becher vorsichtig aus der Halterung. »Die einen prostituieren sich. Für Geld, und Macht über eine Abteilung, über andere Menschen. Das sind die Huren. Sie halten sich für die Stützen der Volkswirtschaft und bezeichnen ihr Tun selbst als Karriere machen. Zu diesem Zweck pressen sie Zitronen aus. Das ist die andere Sorte.«

Stefan legte das Blatt aus der Hand. Bennos Theorie über die Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Arbeitswelt überzeugte ihn. Sympathisiert mit Zitronen wäre ein Merkmal für seine Selbsterkennungs-Notizen gewesen, aber auch eine Abneigung gegen klischeehafte Schwarzweißmalerei. Genau genommen war Bennos Feststellung seine eigene, ohne dass er einen Anhaltspunkt hatte, woher er die Kompetenz für eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt bezog. Schluss damit, sagte er sich, ein unbeschriebenes Blatt wie er sollte sich nicht bereits mit der Zeichensetzung seines Charakters beschäftigen. Besser als Problematisieren war, unter Leute zu gehen und sich zu zerstreuen, etwas anderes hören, nur raus aus dieser Wohnung, in der seine Gedanken von den Wänden reflektiert wurden.

Am Ende der Gottfried-Keller-Straße lag eine Wirtschaft. Dort hockte er sich an einen leeren Tisch und bestellte ein Weißbier. Lange hielt er es nicht aus, abwechselnd in das Bierglas und unbeteiligt in die Runde zu starren und das Geschwätz über Frauen und Saufereien von den Nebentischen anzuhören. Schließlich wurde es ihm zu dumm und er stand wieder draußen vor der Tür. Ziellos schlenderte er ein paar Straßen weiter und genoss die Abendluft. An der roten Leuchtschrift Hexenkessel blieb er stehen. Mariah Carey sang. Durch die Eingangstür drang So here I am with the open arms … Zutritt nur für Frauen, verkündete das Messingschild an der Tür. Stefan hörte Lachen aus Frauenkehlen und fühlte sich ausgeschlossen.