StartseiteAlmtraumFolge 60 vom 31. Mai 2007

Folge 60 vom 31. Mai 2007

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Nach dem Erlebnis im Bürgerbüro wäre Stefan am liebsten fluchtartig in die Berge aufgebrochen. Trotzdem zwang er sich, zu Moosbauer zu fahren. Ich bin zuverlässig, schloss er aus seiner Selbstbeobachtung, und stehe zu meinen Zusagen, auch wenn es schwer fällt.

Während der ersten Fahrt zum Flughafen verfiel er in eine depressive Stimmung. Das Drumherumüberlegen und Ausweichen funktionierte nicht mehr, Panik schob sich hoch in den Hals und zwang ihn, die Geschwindigkeit herabzusetzen, damit er nicht laut schreiend in die Leitplanken fuhr. Sein Fahrgast, ein Amerikaner, nahm das Tempo mit Humor und meinte Is that your Gemutlichkeit? Die Bemerkung eines anderen Fahrgastes traf Stefan härter. Der Mann war jünger als er und ausgesucht in grauschwarz gekleidet, mit blauem Hemd und goldgelbem Schlips. Er solle nicht einschlafen, sagte er, von seinen Unterlagen aufblickend, dies sei ein Taxi und kein Platz unter einer Brücke. Stefan würgte die Wut hinunter und beschleunigte. Eingangs der Stadt übersah er eine rote Ampel, musste hart ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden und schleuderte auf den Straßenbahngleisen. »Raus!« brüllte er, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. Der junge Mann machte sich mit bleichem Gesicht davon.

Stefan fuhr zu Moosbauer und stellte den Wagen auf dem Hof ab. Moosbauer war nicht im Büro und so sagte er Traudel, dass er sich nicht wohl fühle und die Schicht abbrechen müsse. Traudel wünschte gute Besserung und lächelte.

»Kommst du morgen?« Sie verriet ihm mit einem verstohlenen Blick, dass sie das Heftpflaster hinter dem Ohr bemerkt hatte. »Ist es schlimm?«

»Ich habe meine Tage«, antwortete er grimmig und ließ Traudel stehen. In der Tür drehte er um und entschuldigte sich.

»Du armer Bub«, sagte Traudel.

Auf dem Heimweg grübelte er über Traudels Bemerkung. Meinte sie seine momentane Verfassung oder spielte sie auf seine erfolglose Karriere an? Er hatte im Übrigen die Chance vertan, Traudel unter vier Augen nach seinem Namen zu fragen. Moosbauer hatte ihn Dichter genannt, wahrscheinlich hielt man ihn für spinnert. Nur Traudel hätte ihm die Frage nach seinem Namen ohne Nachfrage beantwortet, schloss er aus ihrem Verhalten.

In der nächst gelegenen Apotheke besorgte er sich für alle Fälle eine Packung Schlaftabletten. Zwei beinahe schlaflose Nächte reichten ihm.

Zu Hause kramte er die Selbsterkennungsblätter aus der Schublade hervor und notierte sich auf dem mit Beruf überschriebenen Blatt: Schriftsteller. Broterwerb: Taxifahren. Auf dem Blatt Identität versah er seinen Namen mit einem Fragezeichen. Darunter schrieb er: Ich bin nicht Stefan Bruhks. Einen kurzen Moment zögerte er, dann zerriss er die Blätter und zerknüllte sie zusätzlich. Neue Beklemmungen tauchten auf und würgten ihm die Luft ab bei dem Versuch, tief durchzuatmen.

Es kostete ihn einige Kraft, sich an den Schreibtisch zu setzen. Mehrfach nahm er sich das Phantom-Manuskript und genauso oft legte er es an die Seite, weil sein Gehirn nur abgerissene Gedanken zu Wege brachte und Kreise um den spontan hingekritzelten Satz Ich bin nicht Stefan Bruhks drehte. Die zerknüllten Papierfetzen symbolisierten Endgültigkeit – Asche zu Asche, Staub zu Staub, ich bin tot.

Wo war Alfred?

Die Unruhe trieb Stefan vom Schreibtischstuhl hoch. Runde um Runde drehte er im Wohnzimmer, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er vor dem Bücherregal stehen blieb. Seine Augen wanderten die Reihen der bunten Rücken entlang, zumeist Neuerscheinungen der letzten Jahre, die als anspruchsvolle Arbeiten galten. Eine starke Geschichte tat Not, bei der die Gedanken beim Lesen keine Freiräume zum Abschweifen bekamen.