Die Nachtschicht endete zwischen drei und vier Uhr morgens, wie es sich nach den Fahraufträgen ergab. Schon kurz nach Mitternacht kämpfte Stefan mit der Müdigkeit. Er fand das nicht weiter verwunderlich und rief die Zentrale an. Er sei noch nicht im Rhythmus, meldete er sich ab. Zu Hause legte er sich gleich ins Bett.
Berta war ihm dicht auf den Fersen. Die Stöckelschuhe behinderten ihn beim Laufen, ebenso der enge Rock. Er verlor den rechten Schuh und schüttelte den linken ab. Blonde Haarsträhnen hingen ihm unordentlich im Gesicht. Mit heftigem Schwung warf er die Perücke hinter sich. Berta stolperte über die Schuhe. Er öffnete die Tür links – Herrentoilette, egal – und schloss sich in eine Kabine ein. Keuchend saß er auf dem Toilettendeckel. Von außen wurde heftig an der Klinke gerüttelt. Er hörte, wie eine andere Tür aufgerissen wurde und gegen die Wand knallte.
»Amanda!« rief eine dunkle, volltönende Stimme.
»Nein!« Bertas Schrei ging ihm durch Mark und Bein.
Ungeachtet der Gefahr stürzte er aus der Kabine auf den Gang. Ein hoch gewachsener Mann in einem wehenden schwarzen Umhang hatte Berta wie ein Paket unter den Arm geklemmt und eilte zum Treppenhaus. Berta trug die blonde Perücke, die er weggeworfen hatte. Er wandte sich zur anderen Seite, doch seine Beine folgten den beiden. Eine Türklinke bot Halt und er griff zu, um die Richtung umzukehren. Sein Arm wurde im Ausmaß seiner Schritte länger, spannte sich und schoss gegen seinen Kopf. Der Länge nach fiel er auf den Rücken.
Am entgegengesetzten Ende des Flures tauchten Rickerd und Misanschki auf.
»Da ist die Frau!« rief Misanschki und zielte mit der Pistole auf ihn, breitbeinig und beidhändig.
»Das ist ein Mann«, sagte Rickerd.
Misanschkis Pistole spuckte Feuer. Sein Körper nahm die Schussfolge zuckend auf, als würden sich die Kugeln aus ihm entladen und nicht aus dem Lauf der Pistole. Mehrere Schüsse trafen Stefan und hinterließen kreisrunde Öffnungen, scharfkantig wie von einem Locher.
Klack-klack-klack.
»Jetzt hast du dein Pulver verschossen«, sagte Rickerd.
Stefan zog das kleine Notizbuch unter dem Rock hervor, das er immer am Strumpfband bei sich trug, um die Ideen aufzuschreiben, die ihn außer Haus überfielen. Er notierte die Sätze über Misanschkis konvulsivische Feuerstöße. Das Bild mit der feuerspuckenden Pistole war möglicherweise schon zu abgegriffen, klang zu sehr nach Wilder Westen inklusive. Aber das ließ sich noch überarbeiten.
Misanschki warf die Pistole auf den Boden. »Jetzt müssen wir ermitteln«, sagte er resigniert.
Stefan kroch rückwärts über den Boden. Rote Flüssigkeit rann aus den Löchern. Mit der Fingerkuppe des Zeigefingers schloss er ein Loch in der Brust und spreizte den Mittelfinger auf ein zweites. Aus dem Loch im Bauch sprudelte nun eine kleine Fontäne. Er hielt den anderen Zeigefinger in den Strahl und leckte ihn ab. Merlot 2002. Vin de Pays. Ein guter Tropfen. Zum Aufwischen viel zu schade.
Der Strahl knickte und versiegte schließlich. Er war verblutet. Langsam kroch er weiter. Zu spät bemerkte er die Treppe. Im Sturz überschlug er sich.
Das Kellergewölbe wurde durch eine Vielzahl von zehnarmigen Kandelabern erleuchtet. Luftzug brach die Lichtschatten in den gotischen Bögen und Pfeilern. Die blonde Perücke lag auf dem Boden. Berta stand dicht an das Literaturphantom gedrängt, das Gesicht leidenschaftlich zu ihm aufgerichtet. »Komm, ich will dich publizieren«, flüsterte sie Erik zu und liebkoste den Entsetzten zwischen Hals und Hemdkragen.
»Amanda!« Die Stimme des Phantoms war leiser und flehender, weniger volltönend.
Das Literaturphantom dauerte Stefan. Er wollte sich bemerkbar machen und den Irrtum aufklären, die Zunge klebte ihm jedoch wie ein dickes Geschwulst im Mund.
Stefan saß aufrecht im Bett, öffnete und schloss den Mund und löste die Zunge vom trockenen Gaumen. Er stand auf, ging in die Küche und leerte eine halbvolle Flasche Mineralwasser in kleinen Schlucken.
Wütend zerrte er sich das dünne Baumwollnachthemd vom Leib. Eine absurde Idee, Stefanies Nachtwäsche zu tragen, um Geld für einen Pyjama zu sparen, genauso absurd wie der Diebstahl der Perücke. Das Weibliche bedrängte ihn wie die Enge des Nachthemdes. Demnächst würde er noch seine Tage bekommen.
Die Wunde hinter dem Ohr pochte.
Im Bett zog er sich die Decke über den Kopf, als könnte sie ihn vor dem Träumen seiner eigenen Geschichten schützen. Beim Atmen geriet der Bettbezug zwischen die Lippen, wie ein Erstickender warf er die Decke nach hinten und strampelte sie mit den Beinen fort, hielt es aber auch in dieser Lage nicht aus. Seine Nacktheit störte ihn. Er holte sich die Bettdecke zurück und stopfte sie unter die Arme.
Auf der Straße schlug eine Autotür, dann erklang das gleichmäßige Stakkato von Stöckelabsätzen. Stefan erinnerte sich an die letzte Nacht. Ereignisse, Gefühle und Schicksale ließen sich aus Geräuschen deuten und mit Einbildungskraft und Einfallsreichtum auskleiden.
Als die Straße still lag, schlief er ein.