Misanschki und Rickerd ordneten an, das Verlagsgebäude vom Keller bis zum Dachboden zu durchsuchen. Ergebnislos. Die Fassade wurde Millimeter für Millimeter abgeklopft, sogar bis zur dritten Etage, obwohl gesunder Menschenverstand gereicht hätte um festzustellen, dass in derart luftiger Höhe ein geheimer Ausgang unmöglich war, solche Kletteraktionen wären auf der belebten Hauptstraße aufgefallen. Die Polizei versprach sich nichts von der Aktion außer einem gewissen Beruhigungseffekt für die Öffentlichkeit: Wir tun was. Während sie außen mit der Fassade in der dritten Etage beschäftigt schien, suchte sie drinnen das Literaturphantom unter den Angestellten. Vergeblich. Alle kamen morgens mehr oder weniger pünktlich, und alle verließen das Haus, der Verlagsleiter zumeist erst gegen einundzwanzig Uhr, Gundula noch später, weil sie freiwillig Amandas Arbeit übernommen hatte. Trotz der Fehlschläge blieb Misanschki bei seiner Annahme, das Literaturphantom müsse noch im Verlagsgebäude sein, und so sehr Oberinspektor Rickerd auch fragte, es gab keine Antwort.
Die Polizeipsychologin meinte, es müsse bald zu einer Krisis kommen. Etwa vierzehn Tage nach einer Entführung habe sich die Täter-Opfer-Beziehung stabilisiert. Welche Krise sie denn meine, fragte Rickerd, und Misanschki tippte sich mit der Mündung seiner Pistole an die Schläfe. Die Polizeipsychologin gab keine Antwort. Sie hing mit ihren Augen an der mattschwarzen Pistole, die Misanschki nicht in die Jackentasche, sondern vorne in den Hosenbund steckte.
In der zweiten Woche ihrer Gefangenschaft dachte Amanda verstärkt an Flucht. Sie schickte Erik, Binden zu besorgen; das würde ihr drei Tage Aufschub bringen für den Fall … Sie wagte nicht daran zu denken.
Bei seiner Rückkehr fand Erik das Gewölbe leer vor. Mit einem verzweifelten Aufschrei stürzte er zu der geheimen Tür, die in das Innere des Gebäudes führte.
Im Nachhinein betrachtet wussten alle im Verlag, dass Gundula immer schon seltsam war. Zumindest behaupteten ihre Kolleginnen, dies gewusst zu haben. Warum sich Gundula eine blonde Perücke besorgte, in ein hautenges Kleid schlüpfte und spät abends über die Gänge des Verlagsgebäudes geisterte, konnte sich allerdings niemand erklären.
Der Nachtpförtner hörte die Stimme zuerst. Er schloss die Tür seiner Loge ab, bevor er zum Telefonhörer griff und die 201 wählte. Um diese Zeit waren nur noch Rickerd und Misanschki in dem zum Krisenstab umfunktionierten Sitzungszimmer anwesend – die Hotelsuite war ihnen gekündigt worden.
Die beiden Beamten stürzten auf den Gang. Eine blonde Frau kam ihnen entgegen.
Gundula erstarrte in der Bewegung wie eine verrenkte Plastik und kiekste mit vorgehaltener Hand, ein Laut, der weder eindeutig Angst noch Überraschung war. Blonde Haarsträhnen hingen ihr unordentlich im Gesicht. Am entgegengesetzten Ende des Flures tauchte aus dem Treppenhaus ein hochgewachsener Mann mit wehendem schwarzen Umhang auf.
»Amanda!« rief eine dunkle volltönende Stimme.
Gundula drehte sie sich um und floh in Richtung des Phantoms. Die Stöckelschuhe behinderten sie beim Laufen, ebenso das enge Kleid. Sie verlor den rechten Schuh und schüttelte den linken ab.
»Da ist die Frau!« rief Rickerd.
»Da ist der Mann!« rief Misanschki.
Misanschki zielte mit der Pistole, breitbeinig und beidhändig. Sein Körper nahm die Schussfolge zuckend auf, als würden sich die Kugeln aus ihm entladen und nicht aus dem Lauf. Putz spritzte von der Wand. Das Literaturphantom stolperte und fiel der Länge nach, Gundula auf ihn.
Klack-klack-klack.
»Jetzt hast du dein Pulver verschossen«, sagte Rickerd.
Misanschki warf die Pistole auf den Boden.
Das rückwärtige Treppenhaus hallte von hastigen Schritten. Gundula und das Phantom waren verschwunden.