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StartseiteAlmtraumFolge 46 vom 17. Mai 2007

Folge 46 vom 17. Mai 2007

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Die Einsamkeit der Berta Böttcher.Stefan betrachtete die mittig auf dem Bildschirm eingerückte Überschrift. Er hatte seine Nachbarin gründlich aufgemischt, schreibend eins oben drauf zu setzen war überheblich und rechtfertigte sich nicht deshalb, weil sie ihm gegenüber anmaßend geworden war.

Stefan zwang sich zu einem Themenwechsel. Der Phantomgeschichte fehlten Fortsetzung und Schluss, und das Verhältnis zwischen Amanda und dem Phantom musste noch ausgestaltet werden – als große literaturkritische Auseinandersetzung oder als Dialog mit einem Wahnsinnigen? Diese Frage könnte er mit einer Lektorin erörtern. Das Phantom hatte Amanda, er hatte niemanden. Wenn er sich selbst eine Lektorin entführen würde, brauchte er sich über dramaturgische Anregungen nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.

Schreib etwas über: Die Erfolglosigkeit von Stefan Bruhks.

Stefan überhörte Alfred und schaltete den Computer aus. Noch vor weiteren literarischen Einfällen brauchte er möglichst schnell eine Idee, wie er die Kontrolle in seinem Kopf gegen das verselbständigte Über-Ich zurück erlangen konnte.

 

Es tut mit leid. Ich werde einen strengen Verweis bekommen. Ich schätze, es wird auch diesmal nichts mit der Aufnahme in den Himmel. Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher als die Beförderung. Engel zweiter Klasse, statt Seele auf Bewährung, das wäre doch was! Dreimal muss man sich bewähren. Wer dreimal versagt – ab, Tiefflug in das Magma des Jenseits!

Also, ich biete dir eine neutrale Fassung an: Die Erfolglosigkeit. Von Stefan Bruhks.

»Scher dich zum Teufel!« brauste Stefan auf. Der Drehstuhl polterte gegen das Bartischchen, Gläser fielen klirrend um. »Keine Scherben, kein Glück«, stellte er grimmig fest. Ganz offensichtlich steckte sein Leben in einer Sackgasse, von Turm hohen Fassaden gesäumt, sie versperrten ihm den Blick auf die Gegenwart und brachte ihn nicht weiter, sondern ließen nur den Weg nach rückwärts offen. Zurück lag bisher wenig Verwertbares für eine Bestandsaufnahme. Alfred zu fragen war nahe liegend, doch so sehr Stefan auch litt, konnte er sich zu diesem Schritt nicht überwinden, als würde er ihn in noch mehr Abhängigkeit führen. Sobald sein Gedächtnis wieder normal arbeitete, würde Alfred von allein verschwinden.

Wo war sein Platz im Leben, sein Ort, zu dem er in Bedrängnis fliehen konnte und der ihm Geborgenheit vermittelte? Schon mitten im Gedanken fasste Stefan den Entschluss, ein paar Tage zur Hütte zu fahren, in der Abgeschiedenheit der Bergwelt auszuruhen und zur Besinnung zu kommen, den Ballast abzuwerfen und Freiheit von den Alltagszwängen zu atmen und diese gegen Regeln einzutauschen, die natürlicher waren und ihm darum menschlicher erschienen. Anfänglich hielt er diesen Vergleich für paradox, bis er lernte, sich von den Bergen, der Sonne und den Wolken den Tagesablauf weisen zu lassen.

Sonne, Wolken, Berge – im gleichen Moment war es dunkel in seinem Kopf. Alfreds Bild von der Hütte war weg wie ein unbelichtetes Negativ, und doch beanspruchte diese Hütte, seit Alfred sie ihm gezeigt hatte, wie selbstverständlich einen festen Platz in dem durchaus noch nach Stunden abmessbaren Zeitabschnitt, den er als sein Leben bezeichnen konnte. Den Polo hatte er in der Begegnung erkannt, sicherlich mit Alfreds Hilfe und darum nur ein halbes déjà-vu, und nach Alfreds Bild würde er auch die Hütte sofort als die seine erkennen. Gab es weitere Gesetzmäßigkeiten von Wissen und Erkennen? Bis jetzt blieben sie ihm ein Rätsel. War Alfred der Schlüssel? Alfred war als nicht abschaltbarer zweiter Gedanke lästig im Kopf, seine Hinweise waren aber nützlich gewesen. Hatte Alfred das Bild von Hütte mitgenommen, als er ihn zum Teufel wünschte, oder waren diese Überlegungen Schwachsinn, weil alles nach einem Zufallsprinzip funktionierte?

Stefan nahm Papier aus dem Vorratsstapel des Druckers. Das wenige, was er über sich wusste, wollte er aufschreiben und schrittweise ergänzen, sobald ihm Neues einfiel. Er beschriftete ein Blatt mittig am oberen Rand mit Identitätund legte es an die Seite. Weitere Blätter folgten: Schulausbildung, Beruf, Liebe, Freundschaften, Freizeit und Interessen. Auf dem Blatt Identitätzeichnete er freihändig zwei Spalten, die er mit Merkmalund Beweisüberschrieb, und trug in die Spalte Merkmal den Namen ein, Stefan Bruhks; in die Spalte Beweis: Personalausweis, Scheckkarte. Berta Böttcher hatte gesagt, dies sei die Wohnung von Stefanie Bruhks; er glaubte ihr, trotz der Vertrautheit mit der Einrichtung. Irgendwo würde ein Telefon klingeln, pausenlos, und er würde nicht abheben, zur Verzweiflung seiner Freundin, des Chefs, seiner Mutter, seines besten Freundes. Warum Freundin? Er trug keinen Ehering, aber auch das war kein Beweis. Oh Gott! Schlimmstenfalls war er Familienvater mit zwei Kindern!

Die ständigen Gegensätze in seinen Feststellungen waren wenig ermutigend. Nachdenklich strich er sich durch die Haare. Er fühlte sich für weitere Überraschungen nicht besonders belastbar. Günstiger wäre es, die Wahrheit nach und nach an den Erfahrungen wachsen zu lassen. Er sammelte die Blätter ein und legte sie in die obere Schublade des Schreibtischs.

Es war noch früh am Nachmittag, da könnte er noch etwas unternehmen, jetzt, wo er die Zwänge der Damenbekleidung abgelegt hatte; vielleicht zu Bogner gehen, in die Buchhandlung am Ägidiusplatz. Bei Bogner durfte er ungestört stöbern, ohne das Gefühl zu haben, jedes Buch kaufen zu müssen, in dem er ein paar Seiten oder auch ein ganzes Kapitel geschmökert hatte.

Buchhandlung Bogner, notierte er auf dem mit Freizeit und Interessen überschriebenen Blatt, bevor er losging.