Sie nahm zögernd Platz. Der Saum des Kleides rutschte hoch. Sie zog den Saum nach unten und die Träger nach oben. »Bei mir in der Wohnung ist es zu warm. Ich habe falsch gelüftet.«
Sie hat eine kraftvolle Figur, dachte Stefan, mit beginnenden Fettpölsterchen, doch immer noch schlank. Der Bauch wölbte den Kleiderstoff. Anschauen mochte man sie wohl erst ab den Schultern.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Stefan zog ein rundes Bartischchen zu sich heran. »Portwein, Sherry – Amontillado, hmm! Armangnac – was haben wir den da?« Er studierte das Etikett einer dunklen Flasche. »Fünfunddreißig Jahre alt, edel. Eine Bekannte erzählte mir einmal … Seltsam, ihr Name fällt mir im Augenblick nicht ein. Macht nichts, Sie kennen sie ohnehin nicht. Diese Bekannte bekam von Geschäftsfreunden zu besonderen Geburtstagen jeweils eine Flasche Armagnac, die genau so alt war wie sie selbst.« Er betrachtete die Jahreszahl. »Mein Geburtsjahr. Also, was darf ich Ihnen anbieten?«
Berta winkte ab. »Ich möchte keinen Alkohol.«
Orangensaft, entschied Stefan und ging in die Küche.
»Ist Ihre Schwester nach Österreich auf die Alm gefahren?« fragte Berta aus dem Wohnzimmer.
Alm? Stefan traute sich nicht, einfach ja zu sagen. Unbekannte Details waren wie Fallstricke, über die er im falschen Moment stolpern würde.
Schließe die Augen, nur für einen Moment. Manchmal sieht man im Dunkeln mehr. Alfred kicherte, als habe er etwas sehr Lustiges und gleichzeitig Gescheites gesagt. Die Hütte liegt nur scheinbar verloren im Grün, ringsum beschützt durch die Berge.
Stefans Hand zitterte und er goss einen Teil des Orangensaftes über den Rand des Glases. Die bislang unbekannte Schwester machte Urlaub auf seiner Hütte?
»Woher wissen Sie?« rief er ins Wohnzimmer. Er riss ein Blatt Küchenpapier von der Rolle und wischte den verschütteten Saft auf.
»Sie hat es mit erzählt. Vor einer Woche oder so.«
Stefan reichte ihr das Glas.
»Einmal im Treppenhaus hat sie mir von der Alm erzählt, von der Ruhe und Abgeschiedenheit, und mir den Unterschied zwischen ihrer Arbeit und den Bergen erklärt. Sie sagte: Natur ist natürlich, Kunst ist künstlich, oder gekünstelt, ich weiß es nicht mehr genau. Dort, sagte sie, bin ich ein Teil der Natur, wie jeder Grashalm, nur etwas größer, und klein zu den aufragenden Lärchen, aber nicht geringer. Ist ihre Schwester gläubig?«
»Sie hat ihre Empfindungen einfühlsam in Worte gekleidet, mehr nicht«, antworte Stefan, während er die Scherben zum Abfalleimer trug.
»Was arbeiten Sie?« fragte Berta..
»Ich bin Schriftsteller.« Er holte das Manuskript vom Schreibtisch.
»Lesen Sie«, hielt er Berta die Manuskriptseiten hin, »und urteilen Sie. Was Sie von der Geschichte halten und was Ihnen sonst dazu einfällt.«
Berta nahm widerstrebend die sechs Blätter.
»Und?« fragte er, als sie nach endlosen Minuten aufblickte.
»Ich weiß nicht«, meinte Berta in ihrem gewöhnlichen unfreundlichen Tonfall. »Ich verstehe nichts von Büchern. Meistens gucke ich Fernsehen, am liebsten Schicksale; Filme, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Eine Frau lässt sich scheiden und der Mann will ihr das Kind wegnehmen, illegal natürlich. Oder eine Frau heiratet einen Mann und stellt dann fest, dass er kriminell ist. Ein Mann hat eine Geliebte und sie versuchen, die Ehefrau loszuwerden. Mit anonymen Morddrohungen. Manchmal auch ganz raffiniert, dann gerät sie unter falschen Verdacht und erst am Ende der Gerichtsverhandlung findet die Anwältin den Beweis ihrer Unschuld.«
»Die Geschichte gefällt Ihnen nicht?«
Berta dehnte ein Nein zu einem unschlüssigen Ja. »Ich war auch schon in Hamburg, im Phantom der Oper.«
»Ein Plagiat? Sie vermissen also die Originalität.«
»Einiges kam mir bekannt vor.« Sie reichte ihm die Seiten zurück.
Stefan zerriss die Seiten, legte die Hälften übereinander und teilte sie noch einmal. »Das war ein Verriss«, sagte er und warf die Viertel in den Papierkorb.