Meine nächste Wahrnehmung war eine große helle Fläche, eine einfache Struktur, die ich aber nicht zuordnen konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich eine Zimmerdecke erkannte und feststellte, dass ich mit Unterwäsche bekleidet in meinem Bett lag und das Dröhnen nicht von draußen kam. Vorsichtig erhob ich mich, und das Tosen schwoll bedenklich an. Ich schleppte mich nach nebenan ins Badezimmer. Praktischerweise war es direkt vom Schlafzimmer aus zugänglich. Dafür fehlte im Bad das Klo. Es lag abgeteilt am Ende der Diele, was ich wiederum für unpraktisch hielt, denn ich musste morgens wie jeder andere erst einmal pinkeln. Ich unterdrückte das Bedürfnis, holte Alka Seltzer aus dem Spiegelschrank und bereitete mir ein belebendes Getränk. Auf der Badewannenkante sitzend wartete ich auf Besserung. Ich bewegte mich erst wieder, als ich den Druck nicht mehr aushalten konnte.
Von der Toilette aus ging ich ohne besonderen Grund ins Wohnzimmer. Das Rollo war heruntergezogen. Ich wunderte mich und zog an der Schnur, bis der Mechanismus griff und mir die Schnur aus der Hand glitt. Das Rollo ratterte und überschlug sich mehrfach.
»Ruhe!« fauchte es von meinem Sofa. Pia lag dort blinzelnd unter einer Wolldecke. Die Anweisung war unnötig, denn zu Gesprächen fühlte ich mich noch nicht in der Lage, und das Hämmern in meinem Kopf konnte sie nicht hören. Ich versuchte, eine Frage zu formulieren, kam damit aber nicht auf Anhieb zurecht.
»Entsetzlich, wie du abgestürzt bist«, sagte Pia mit vorwurfsvollem Gesicht. »Im Taxi hast du die halbe Zeit gepöbelt, weil der Fahrer nicht den Weg genommen hat, den du dir eingebildet hast. Und weil er nur gebrochen Deutsch sprach und dich nicht verstand. Dabei hättest du dich hören sollen! Der Versuch eines neuen, lautmalerisch orientierten Dialektes!«
Pia stand auf, hielt sich die Wolldecke vor die Brust und ging zum Sessel. Sie drehte mir den Rücken zu, ließ die Wolldecke fallen und zog sich hastig das Kleid über. Der rechte Träger war abgerissen und brachte das Kleid in eine aufreizende Schieflage.
»Hast du wenigstens eine Sicherheitsnadel?« Pia hielt den Träger in der Hand und funkelte mich an. »Wenn das der Dank dafür ist, dass ich dich nach Hause geschleppt habe. Du bist über mich hergefallen.«
»War ich erfolgreich?« Hatte sie mir deshalb den Anblick ihrer Brüste beim Überziehen des Kleides nicht gegönnt?
Pia ging auf mich los. »Frag dein Schienbein.«
Mein Schienbein antwortete nicht. Pias Attacken mussten unerheblich gewesen sein. Es gelang mir, ihre Arme zu fassen, bevor sie tätlich werden konnte, und ich küsste sie; sie wandte den Kopf ab, aber ich griff ihn mit der rechten Hand und fing ihren Mund wieder ein. Während sie versuchte, mich an den Oberarmen wegzuschieben, schloss und öffnete sie abwechselnd ihre Lippen. Sie berauschte mich mit ihrem Zappeln und ich nahm mir, was ich mir sehnlichst gewünscht hatte.
Ich ließ erst von ihr ab, als sie stocksteif stand und ihr Dulden die Erkundungen meiner Hand auf ihrem Körper zu kneten und befummeln abstufte. Mit einer Mischung aus Wut und Neugier schaute sie mich an, und selbst in meinem Zustand brauchte ich keine Reaktionszeit um zu erkennen, dass mir eine verbale Hinrichtung bevorstand. Noch ehe sie etwas sagen konnte, quälte sich die Linie 9 quietschend durch die Kurve aus der Emmanuel-Müller-Straße. Ich las Du Schwein! von ihren Lippen. Eine Allerweltsformulierung, wunderte ich mich; sie musste in diesem Moment ganz sie selbst gewesen sein.
Weil sie sich umdrehte statt auf mich zuzugehen, wartete ich ab. Sekunden später knallte die Wohnungstür.
Im Verlaufe der nächsten Stunde tröpfelten mir die Konsequenzen ins Bewusstsein, mit der wachsenden Fähigkeit, meinen Verstand wieder klar zu gebrauchen. Pia würde mir nie verzeihen. Bei jeder anderen Frau hätte ich meine Begierde zu Du bist wahnsinnig begehrenswert! geredet und sie mit Leidenschaft begründet. Erschreckt stellte ich fest, dass nicht der Verlust einer Freundin, sondern das Alleinsein mein Fühlen bestimmte.